Frage an Annekathrin Giegengack von Jörg S. bezüglich Recht
Sehr geehrte Frau Giegengack.
Danke für Ihre Antworten!
Meine Anspielung in Bezug auf "politischen Druck" kommt nicht von ungefähr. Sie zielt z.b. auf das Ereignis ab, als die Chemnitzer Grünen sich vehement weigerten, Parlamentariern der NPD und der Republikaner, Eintritt zu einer ihrer öffentlichen Diskussionsveranstaltung im Ratskeller zu gewähren. Solch ein Verhalten widerspricht dem Demokratieverständis zu dem Sie sich hier im Namen Ihrer Partei bekennen. Desweiteren gibt es gesicherte Erkenntnisse darüber, daß gerade Grüne immer wieder propagieren, Andersdenkende eben nicht zu Wort kommen zu lassen.
Daß Politiker dafür "einstehen", was sie selbst "verzapft" haben, bedeutet praktisch gesehen überhaupt nichts, da ein diesbezügliches Eingeständnis bekanntermaßen kaum Sanktionen für unsere Politiker nach sich zieht. Die einzigen Folgen die regelmäßig bekannt werden, sind hohe Übergangsgelder und Pensionsansprüche nach einem "Rücktritt".
Die angesprochene Divergenz hinsichtlich einiger Punkte Ihrer Parteiprogrammatik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie einen weitestgehenden Konsens hinsichtlich der Programmatik pflegen müssen, ansonsten wären Sie wohl in der falschen Partei. Letzteres vermute ich, ist wohl eher nicht der Fall, deswegen gehe ich persönlich davon aus, daß Sie uns hier möglicherweise nur etwas "vormachen" wollen.
Frage: Sind Sie der Ansicht, daß Deutschland noch mehr Zuwanderer braucht? Wenn ja, wofür?
Mit freundlichen Grüßen
Jörg Schubert
Sehr geehrter Herr Jörg Schubert,
die von Ihnen angesprochene Veranstaltung von Bündnis 90 / Die Grünen im Ratskeller war keine Diskussions- sondern eine Informationsveranstaltung über Rechtsextremismus. Des weiteren hat ein Veranstalter die Pflicht, für einen störungsfreien und sicheren Ablauf der Veranstaltung zu sorgen. In diesem Sinne kann er von seinem Hausrecht Gebrauch machen und die Nichtöffentlichkeit herstellen. Da die Mitglieder der Fraktion der Republikaner bereits im Stadtrat mehrmals bündnisgrüne Stadträte massiv verbal angegriffen haben (den traurige Höhepunkt dieser Attaken stellt der Kommentar des Stadtrates und Bundestagsdirektkanidaten Martin Kohlmann dar, der einen unserer Stadträte öffentlich mit "sie geistiger Krüppel" beschimpfte), mußten wir davon ausgehen, dass es den Vertretern der Republikaner und der NPD beim Besuch unserer Veranstaltung nicht um einen Informationszugewinn ging, sondern vielmehr die Absicht verfolgt wurde, diese Veranstaltung zu stören. Aus diesem Grund haben wir im Sinne der anderen Teilnehmer, die Nichtöffentlichkeit hergetsellt.
Zu ihrer Frage:
Die multikulturelle Gesellschaft ist Realität, die wir demokratisch gestalten wollen. Sie ist Bereicherung und Herausforderung. Sie ist nicht bequem, beinhaltet aber immense Potenziale. Migrantinnen und Migranten sind selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Kulturelle und religiöse Vielfalt werden das Leben in unserer alternden Gesellschaft von Generation zu Generation stärker kennzeichnen. Mit einer im Polizei- und Ordnungsrecht verhafteten Ausländerpolitik werden wir diesen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Deshalb haben wir einen Perspektivwechsel eingeleitet: Weg von der alten Ausländer- und Aussiedlerpolitik, hin zur Integrationspolitik als gesellschaftspolitischer Zukunftsaufgabe. Für uns ist Integration der Prozess zu einem Leben in geltendem rechtlichem Rahmen, mit sozialer Chancengleichheit und kultureller Selbstbestimmung. Wir brauchen mittelfristig eine aktive Einwanderungspolitik mit einem innovativen Punktesystem. Unser Land muss sich interkulturell öffnen - vor Ort in den Städten, in den sozialen Regeldiensten, in Verbänden, Verwaltung und Politik. Die frühe sprachliche Integration der Kinder ist eine Schlüsselaufgabe der Integrationspolitik, aber auch für Erwachsene ist der Spracherwerb unverzichtbar. Doch integrieren kann sich nur, wer Zugang zu Bildung hat. Unser Bildungssystem muss fähig werden, mit sozialer und kultureller Heterogenität umzugehen. Wir setzen uns besonders ein für die Fortbildung von Migranten und Migrantinnen und Deutschen mit Migrationshintergrund. Die Teilnahme am gesamten schulischen Leben muss auch für Mädchen gelten und konsequent umgesetzt werden. Wir haben mit der Lebenslüge, Deutschland sei kein Einwanderungsland, Schluss gemacht und so Integrationsdefizite erst aufgezeigt. Ein Zusammenleben in gesellschaftlicher Vielfalt muss einhergehen mit der Anerkennung gemeinsamer und verbindlicher Regeln. Maßstab sind die Grund- und Menschenrechte. Die Achtung der Menschenwürde, Toleranz, Respekt, Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung sowie die Anerkennung von demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren sind solche Grundvoraussetzungen des Zusammenlebens.
Eine zukunftsfähige, moderne Integrationspolitik kommt nicht ohne rechtliche Gleichstellung und die politische Integration der Migrantinnen und Migranten aus. Wir laden die Migrantinnen und Migranten ein, Bürger dieses Landes zu werden, und setzen uns dafür ein, dass die Türen geöffnet werden - auch in den oberen Etagen und Leitungsfunktionen. Wir setzen uns ein für die erleichterte Einbürgerung und die großzügige Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft. Der automatische Verlust der Staatsbürgerschaft bei Deutschen, die einen anderen Pass annehmen, führt zu erheblichen Unsicherheiten und muss dringend reformiert werden.
Bürger- und Menschenrechte für Zugewanderte und die Einhaltung humanitärer Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen sind und bleiben Kernanliegen der Politik von BÜNDNIS 9 0 / DIE GRÜNEN. Dies war unsere Leitlinie bei den Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz. Einige Reformansätze sind im Vermittlungsverfahren auf der Strecke geblieben, andere haben wir durchsetzen können. In einem entscheidenden Punkt klaffen Anspruch und Realität des Gesetzes auseinander. In der Praxis gibt es nach wie vor Kettenduldungen. Langjährig hier lebende Menschen erhalten keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus und damit keine Integrationsperspektive. Hier sehen wir dringenden Handlungsbedarf. Wir setzen uns ein für eine Bleiberechtsregelung. Insbesondere Kinder von Flüchtlingen, die einen Schulabschluss erreicht haben, müssen Zugang zu Ausbildungsplätzen erhalten, indem sie Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis haben. Die Integrationskurse müssen für alle zugänglich und eng mit den Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit verknüpft werden. Finanzierung und Rahmenbedingungen dieser Sprachkurse müssen verbessert und unnötige Bürokratie muss abgebaut werden. Wir wollen die Residenzpflicht, die Ausreisezentren und das Flughafenverfahren abschaffen. Plänen zur Einrichtung von Flüchtlingslagern außerhalb der EU erteilen wir eine klare Absage. Mit uns wird es keine Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien geben.
Stattdessen kämpfen wir für die Beseitigung von Fluchtursachen. Bei der Abschiebehaft wollen wir die Dauer freiheitsberaubender Maßnahmen stark beschränken. Besonders schutzwürdige Personen wie Minderjährige, Schwangere, ältere Personen, Alleinerziehende mit Kindern, Kranke und Traumatisierte dürfen nicht in Abschiebehaft. Die derzeit in Deutschland praktizierte Form der Abschiebungen in Krisengebiete wie Afghanistan verurteilen wir aufs Schärfste. BÜNDNIS 9 0 / DIE GRÜNEN setzen sich dafür ein, dass das derzeit geltende Asylrecht reformiert und menschlicher gestaltet wird. Besonders problematisch ist die hohe Zahl der eingeleiteten Widerrufsverfahren gegen positive Asylbescheide durch das Bundesamt für Migration und Flucht. Die Beendigung des Flüchtlingsstatus kommt nach internationalem Flüchtlingsrecht nur dann in Betracht, wenn die Rückkehr der Betroffenen in Sicherheit und Würde gewährleistet ist. Die Betroffenen verlieren durch die Widerrufsentscheidungen ihren gesicherten Status und die damit verknüpften sozialen Rechte (wie zum Beispiel den Zugang zum Arbeitsmarkt) zu einem Zeitpunkt, zu dem vollkommen unklar ist, wann sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass die pauschale Widerrufseinleitung gegen ganze Gruppen von Flüchtlingen gestoppt wird und zukünftig unterbleibt. Auch illegal in Deutschland lebenden Menschen stehen die grundlegenden Menschenrechte zu. Gesundheitsversorgung, Schulbesuch und Lohn für ihre Arbeit darf Menschen nicht verweigert werden. Es muss klargestellt werden, dass Ärzte, Pädagogen, Sozialarbeiter und Richter nicht zur Denunziation gezwungen werden dürfen. Wir werben für einen gesellschaftlichen Konsens, um den betroffenen Menschen ein Angebot zur Legalisierung zu machen. Dabei orientieren wir uns an Ländern wie Spanien, Frankreich, Belgien, Griechenland und den USA.
Mit freundlichen Grüßen
Annekathrin Giegengack