Frage an Annalena Baerbock von Marcel R. bezüglich Innere Angelegenheiten
Sehr geehrte Frau Baerbock,
ich hätte eine Frage bezüglich Ihres Standpunktes zur direkten Demokratie. Denken Sie, dass in Deutschland mehr direkte Demokratie möglich wäre? Würden Sie sich dafür eher einsetzen oder würden Sie dagegenstimmen? Was wären hierfür Ihre Beweggründe?
Mit freundlichen Grüßen
Marcel Rudolf
Sehr geehrter Herr Rudolf,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir GRÜNE fordern seit vielen Jahren Instrumente der direkteren Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger*innen. Denn die Essenz unserer Demokratie ist, dass Perspektiven aktiv eingebracht werden können. Eine vielfältige Demokratie braucht Einmischung, Repräsentanz, Lust zur Auseinandersetzung und Kompromissfähigkeit. Wir wollen, dass unsere Bevölkerung die Möglichkeit bekommt, die politische Agenda stärker selbst zu gestalten. Dieses Grundprinzip grüner Politik wird sich auch in unserem neuen Grundsatzprogramm widerspiegeln.
Im Programmentwurf setzen wir uns für Bürger*innen-Räte ein. Mit diesen soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von zufällig ausgewählten Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen. Bürger*innen-Räte können nach unserer Vorstellung auf Initiative der Regierung, des Parlaments oder durch ein Bürgerbegehren, also direkt aus der Bevölkerung heraus, zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das soll auch auf Bundesebene möglich sein.
Wir halten diese Form der direkten Beteiligung am politischen Aushandlungsprozess in Zeiten starker Polarisierung und gesellschaftlicher Pluralisierung für ein passendes Instrument, um unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wieder miteinander ins direkte Gespräch zu bringen. Denn nur so kann eine gemeinsame Idee für die Zukunft dieses Landes entwickelt werden. Nur im Austausch von Argumenten und Perspektiven kann in einer zersplitterten Gesellschaft Zusammenhalt gesichert werden. Umso mehr gilt das in einer Situation, in der wir sehen, dass Institutionen verknöchern und dass das Pflegen von Privilegien und soziale Selektivität leider zur Zustandsbeschreibung unserer Demokratie gehören.
Um die gesellschaftlichen Gräben zu verringern und Interesse an politischer Mitgestaltung zu erhöhen, brauchen wir demokratische Strukturen, in denen die Bürger*innen sich beraten und einbringen können. Menschen, die sonst nie wirklich miteinander sprechen, müssen sich hier auf die Argumente der anderen einlassen. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr in verschiedene Gruppen mit ihren eigenen Filterblasen zerteilt, stellen Bürger*innen-Räte ein Gegengewicht dar. Die Erfahrungen aus Bürger*innen-Räten weltweit zeigen, dass auf diese Weise gegenseitige Verständigung und gegenseitiger Respekt entstehen. Menschen, die an Bürger*innen-Räten teilgenommen haben, interessieren sich danach verstärkt für politische Fragen oder beginnen, sich selbst zu engagieren. Gerade, wenn es um Fragen geht, die die Gesellschaft spalten, wie etwa bei der Aufnahme von Geflüchteten oder Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise, oder auch bei Fragen, welche die Abgeordneten unmittelbar selbst betreffen, etwa deren Altersversorgung.
Parlamente brauchen eine größere Offenheit und bessere, vielfältigere Beratung, auch jenseits von Lobbyismus und Fachexpertise, nämlich durch Stimmen aus dem ganz normalen Leben. Bürger*innen-Räte sorgen dafür, dass die Entscheidungsfindung stärker legitimiert, transparent und in eine breitere gesellschaftliche Debatte eingebettet ist.
Gute Verhandlungen über politische Fragen können dann entstehen, wenn sichergestellt wird, dass Menschen sich frei, gleich und fair eine Meinung bilden können, unbeeinflusst von Lobbyinteressen. Nicht als Konkurrenz zum Parlament, sondern als Ergänzung und Stärkung. Bürger*innen-Räte haben auch den Vorteil, dass wir mit ihnen dem Repräsentationsdefizit unseres politischen Systems begegnen können. Bei der Auswahl der Zufallsbürger*innen kann auf die repräsentative Verteilung etwa von Frauen oder Minderheiten geachtet werden und so garantiert werden, dass alle Stimmen gleichberechtigt und repräsentativ gehört werden. Im Bürger*innen-Rat soll die Gesellschaft in ihrer Breite und Vielfalt weitestgehend repräsentativ abgebildet sein und jeder Mensch in Deutschland die gleiche Chance haben, Teil des Rates zu werden.
Durch die Bürger*innen-Räten entstehen öffentliche Debatten aus unterschiedlichsten Perspektiven, mehr Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen, neue Ideen, ernsthafte Gespräche und gemeinschaftsorientierte Diskussionen. Menschen wie „Du“ und „ich“ erhalten plötzlich die Gelegenheit, wirklich zu gestalten und mitzuentscheiden. Es geht um den Austausch von Argumenten, ums Zuhören, sich einlassen. Hass, Hetze, Lügen und Stammtisch-Parolen treten erfahrungsgemäß in den Hintergrund und verschwinden ganz, wenn es um konstruktiven Dialog geht.
All das sind Gründe, warum der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürger*innen-Räte für die geeignete Form direkter Beteiligung auf Bundesebene hält. Aber wie Sie wissen, sind wir GRÜNE schon seit unserer Gründung eine basisdemokratisch ausgerichtete Partei. Unsere Mitglieder haben ein großes Mitspracherecht bei der künftigen Programmatik und bislang sind in unserer Parteizentrale weit über 1.000 Änderungsanträge zum neuen Grundsatzprogramm eingegangen, einige auch zu der Frage direkter Beteiligung und direkter Demokratie.
Auf unserem kommenden (digitalen) Parteitag vom 20. bis 22. November 2020 werden wir unser neues Grundsatzprogramm und die Änderungsanträge mit der breitesten Unterstützung ausgiebig diskutieren und dann das Programm in seiner endgültigen Fassung beschließen.
Beste Grüße
Team Annalena Baerbock