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Annalena Baerbock
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Frage von Marco S. •

Frage an Annalena Baerbock von Marco S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Die Grünen fordern und setzen sich für Eurobonds/ Coronabonds ein. Nachweis: https://sven-giegold.de/europaeischer-rat-eurobonds-corona/

Es folgt Artikel 125 des EU-Vertrages:
Artikel 125
(ex-Artikel 103 EGV)
(1) Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein;
dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Nachweis: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12012E/TXT:de:PDF

Auf welcher Rechtsbasis fordern EU-Mitgliedsländer das von der EU ein?

Auf welcher Rechtsgrundlage fordern die GRÜNEN das? Zur Verdeutlichung des Verständnisses gestatten Sie mir folgendes Beispiel. Ich würde in diesem Beispiel für die Schulden meiner Nachbarn haften, ohne Einfluss auf deren Entscheidungen nehmen zu können.

Schließen sich solche Ideen/Forderungen nicht alleine aus, da wir in den nächsten Jahren selber die Auswirkungen dieser Krise zu spüren bekommen?

Wer würde dauerhaft überwachen/garantieren, dass solche Mittel nicht zur "Bedienung" des defizitären Haushaltes dieser Staaten verwendet werden würde?

Wäre ein solcher einseitiger Vertrag nicht sittenwidrig, da einseitig? Wenn nein, sollten nicht wenigstens die Wähler über die dann neuen Vertragsgrundlagen abstimmen können? Die Briten wurden zum Brexit befragt.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Skowron,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Als rechtliche Grundlage kann Art. 122 AEUV herangezogen werden:

"(1) Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten.
(2) Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren.“

Das bail-out Verbot des Art. 125 AEUV stünde hier nicht entgegen. Denn ein finanzieller Beistand für einen oder mehrere Mitgliedstaaten in Form von Corona-Bonds in der Ausnahmesituation einer weltweiten Pandemie, hat nichts mit einer Verweigerung einer soliden Haushaltspolitik zu tun. In der Ölkrise gab es schon mal eine gemeinsame europäische Anleihe – aber dies war vor den Zeiten des Euro. Zur Finanzierung einzelner Programme begibt die EU bereits eigene Anleihen.

Aus der Rechtsprechung des BVerfG folgt zum einen, dass der Bundestag keine finanziellen Verpflichtungen in unbestimmter Höhe zustimmen darf, die den Haushalt in unabsehbarer Weise belasten. Wenn die Corona-Bonds nur eine bestimmte Höhe erreichen sollen, genannt wird bspw. die Summe von 1.000 Milliarden, und Deutschland für eine derart begrenzte Summe neben den anderen Mitgliedstaaten haftet, wird von einigen Juristen argumentiert, dass – verglichen mit dem ESM – keine unüberschaubare Belastung vorliegt. Entscheidend ist hierbei anderen Stimmen zufolge neben der Höhe der Summe insbesondere die Frage, ob die Mitgliedstaaten für die aufgenommene Summe gesamtschuldnerisch oder zu bestimmten Anteilen haften. Bei einer begrenzten Haftung muss jeder Staat nur für eine bestimmte (bspw. im Vorhinein festgelegte) Summe einstehen, bei einer gesamtschuldnerischen Haftung ist jeder Mitgliedstaat für die gesamte Summe haftbar. Fällt ein Staat aus, müssen die anderen Staaten seine Rückzahlung übernehmen. Laut BVerfG muss überdies gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Die Entscheidungen über die Verwendung der durch die Corona-Bonds eingenommenen Mittel müsste folglich ebenfalls in bestimmtem Maße an den Bundestag rückgebunden werden. Werden die Anforderungen des BVerfG erfüllt, könnten Corona-Bonds mit den Vorgaben des Art. 115 GG vereinbar sein.

Die EU darf Schulden aufnehmen. Die EU begibt bereits seit vier Jahrzehnten immer wieder Anleihen, bis jetzt allerdings nur, um sie als Kredite an Mitgliedstaaten weiterzureichen. Doch Artikel 122 AEUV erlaubt der EU, in Notsituationen Solidarität unter ihren Mitgliedern zu organisieren und Artikel 311 AEUV sieht vor, dass die EU sich mit den erforderlichen Finanzmitteln ausstattet. Da die in dieser Krise notwendige Solidarität wie oben beschrieben schwerlich über höhere Beiträge finanziert werden kann, erlaubt der Vertrag in dieser speziellen Situation eine Aufnahme von Schulden zur Finanzierung von Haushaltsausgaben. Für einen solchen Schritt ist eine Änderung des EU-Eigenmittelbeschlusses notwendig; diese bedarf der Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten. So ist sichergestellt, dass die nationale Haushaltshoheit gewahrt bleibt.

Es ist keine Vergemeinschaftung von Schulden. Die EU ist als Rechtsperson haftbar für die von ihr begebenen Anleihen. Es ergibt sich daraus kein Durchgriffsrecht der Gläubiger auf nationale Haushalte einzelner Mitgliedstaaten, wie es sie beispielsweise bei Eurobonds mit gesamtschuldnerischer Haftung gäbe. Es ergibt sich auch für keinen Mitgliedstaat eine irgendwie geartete Haftungsübernahme für bestehende oder zukünftige Schulden anderer Mitgliedstaaten. Zusätzlich ist ein Ausfall der EU auf die vorgeschlagenen Anleihen extrem unwahrscheinlich: Die Fälligkeit der Anleihen würde über einen langen Zeitraum gestaffelt, sodass in jedem Jahr nur ein kleiner Betrag mit Mitteln aus dem EU-Haushalt getilgt werden könnte. Sollten sich wider Erwarten einzelne Mitgliedstaaten weigern, ihre Beiträge in den EU-Haushalt zu zahlen, könnte die EU die Anleihen trotzdem bedienen und stattdessen die Zuwendungen aus dem Haushalt an diese Länder stoppen.

Deswegen sind wir aus verschiedenen Gründen davon überzeugt, dass der Vorschlag von Merkel und Macron eines EU-Wiederaufbaufonds deutlich geeigneter ist als das Konzept der „sparsamen 4“. Schon allein deshalb, weil wir Sorge vor einem Auseinanderbrechen der EU haben. Italien und Spanien als besonders stark von Covid-19 betroffene Länder helfen Kredite deshalb nicht, weil diese Länder kein Marktzugangsproblem haben, sondern ein Schuldenstandsproblem. Und Kredite würden diesen Schuldenstand noch erhöhen. Sehr viel besser wäre es deshalb, die direkten Ausgaben der EU in den betroffenen Ländern zu erhöhen, da dies mit einer engen Haushaltskontrolle einhergeht und diese Mittel außerdem in den entsprechenden EU-Rechtsakten zweckgebunden werden und so nur im Einklang mit EU-Zielen wie bspw. dem Green Deal verausgabt werden können. Das Instrument dafür ist der Wiederaufbaufonds, den Merkel und Macron fordern. Bleiben öffentliche Aushaben in bspw. Spanien und Italien aus, droht dort eine Pleitewelle und Massenarbeitslosigkeit und daraus resultierend ein starkes Auseinanderklaffen der Wirtschaftsentwicklung in der EU. Eine Wiederankurbelung der deutschen Wirtschaft wäre dann nur schwer denkbar. Das kann außerdem nicht im Interesse einer*s jeden sein, der*dem die Europäische Idee am Herzen liegt.

Diesen Fonds über eine Repriorisierung des bestehenden EU-Haushalts oder über eine Erhöhung der Beitragszahlungen für die weniger von Covid-19 betroffenen Mitgliedsstaaten zu finanzieren, würde wieder vor allem die traditionell großen Nettozahler treffen und wäre nicht zu vermitteln.

Mit freundlichen Grüßen
Team Annalena Baerbock

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