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Annalena Baerbock
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Frage von Peter W. •

Frage an Annalena Baerbock von Peter W. bezüglich Wirtschaft

Liebe Frau Baerbock!

Gestern hat Sigmar Gabriel den Jahreswirtschaftsbericht 2015 vorgestellt, und hat groß angekündigt, wie gut Deutschland angeblich dasteht und dass 2015 wieder keine neuen Schulden notwendig sind.

Leider verschweigt er, sowohl in der Pressekonferenz als auch in der Pressemitteilung, die ich auf der Webseite des BMWi finde, dass ja doch 205,8 Milliarden Euro an neuen Schulden für diese "Leistung" nötig sind (oder 6,8% des BIP; S. 60 des Berichtes), nämlich als Verschuldung des Auslandes bei uns!

Mich würde interessieren, wie Sie -- als Mitglied sowohl im Wirtschafts- als auch im Europaausschuss -- diese Tatsache sehen. Es kann doch wohl nicht unser Ziel sein, alle Länder (besonders in der Eurozone) erst zum Sparen zu zwingen, aber gleichzeitig zu verlangen, bei uns 200 G€ neue Schulden zu machen.

Ihr Standpunkt würde mich sehr interessieren, auch weil diese Art Fragen in der Presse kaum diskutiert werden.

Grüße von
Peter Weilbacher.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Weilbacher,

vielen Dank für Ihre Frage. Der von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht und die darin dargestellten Haushaltsposten sind in meinen Augen an vielen Stellen politischer Etikettenschwindel. Schon die mit dem Haushalt 2014 groß verkündete schwarze Null ist etwas schöngerechnet. Von einem ausgeglichenen Haushalt kann meiner Meinung nach nicht die Rede sein, wenn man statt Bankenkredite aufzunehmen, einen tiefen Griff in die Sozialkassen vornimmt. Trotz des Warnschusses bei der Steuerschätzung und des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates verlässt sich die Bundesregierung in ihrem Haushalt weiterhin auf die relativ gute Konjunktur und Steuermehreinnahmen. Strukturelle Änderungen am Haushalt, um Schuldenrisiken zu senken und nachhaltige Investitionen anzureizen, nahm die Bundesregierung allerdings nicht vor.

Daneben finde ich die jüngsten Berichte über Deutschlands Beitrag zum europäischen Investitionsfonds erschütternd. Nun hat der neue EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker als erste Amtshandlung einen europäischen Investitionsplan vorgeschlagen und damit die Chance verbunden, einen Kurswechsel in Europa weg von einer einseitigen Krisenbewältigung hin zu mehr Investitionen zu gehen und die Bundesregierung schaut wieder nur bis zur eigenen Grenze und nicht über den nationalen Tellerrand. So hat die Bundesregierung eine Reihe sinnloser und teurer Projekte für den Investitionsplan eingereicht, ohne sich nur ein bisschen an Nachhaltigkeitskriterien, Energiewende und europäischem Mehrwert zu orientieren. Europäische Solidarität sieht für mich anders aus. Besonders traurig finde ich, dass sich die Bundesregierung mit der KfW nicht direkt am Europäischen Investitionsfonds beteiligen wird, sondern nur in einer zweiten Stufe bei der Ausgestaltung von Projekten, um hier selbst Rendite zu machen. Somit besteht die Gefahr, dass es zu Konkurrenz mit dem Juncker-Plan kommt und andere Investitionen darin verdrängt werden. Die jetzige Bundesregierung verliert in meinen Augen immer mehr den Gesamtblick auf und für Europa und verhält sich zunehmend nationalstaatlich egoistisch. Durch so ein Verhalten war der Jahreswirtschaftsbericht mit der Überschrift „Investieren in Deutschlands und Europas Zukunft“ schon beim Druck reine Makulatur.

Soweit ich die von Ihnen genannte Zahl von 205,8 Mrd. Euro lese, handelt es sich dabei um den Außenbeitrag zum Bruttoinlandsprodukt, also um Deutschlands Exportüberschüsse. Diese darf man nicht automatisch mit den Schulden anderer Staaten gleichsetzen, sondern sollte neben der Handelsbilanz die Leistungsbilanz in der Gesamtschau betrachten. Die Leistungsbilanz bezieht zum Beispiel deutschen Tourismus im Ausland mit ein, also wenn es darum geht, dass ein Teil des Geldes wieder zurück in die „Herkunftsländer“ fließt. Die von Ihnen genannte Zahl zeigt zunächst den enormen deutschen Handelsbilanzüberschuss und damit eben indirekt die Verschuldung anderer Länder. Während die Bundesregierung nicht müde wird, die Wettbewerbsvorteile Deutschlands gegenüber dem Ausland zu bejubeln, sind wir Grünen hier sehr nah bei der Europäischen Kommission. Diese stuft das Ausmaß deutscher Leistungsbilanzüberschüsse als systemgefährdend ein. Mit ihrem Jubel lenkt die Bundesregierung meiner Meinung nach davon ab, dass strukturelle Änderungen in der deutschen Wirtschaftspolitik dringend notwendig sind. Damit Deutschland ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort bleibt, müssen die Produktivität, Leistungsfähigkeit und Innovationskraft der Unternehmen weiterhin gefördert werden. Wichtig ist gleichzeitig, dass die Investitionen und der Konsum im Inland steigen. Für Staat und Wirtschaft wäre die Stärkung einer generationengerechten Investitionspolitik in nachhaltige Infrastruktur, Klima und Bildung ein geeignetes Mittel, um die Konjunktur zu beleben und die massiven gesamteuropäischen Ungleichgewichte abzumildern.
Denn ein Leistungsbilanzüberschuss bedeutet auch, dass die deutsche Binnennachfrage unter ihren Möglichkeiten bleibt, weil die Menschen zu wenig Geld in der Tasche haben und keine ausländischen Produkte kaufen und somit die Konjunktur anderer Länder schwächen. Gerade um die Binnennachfrage zu befördern und einen angemessenen Lohn zu erhalten und nicht länger zu Lasten anderer Länder zu leben, kämpfen wir Grüne seit langem für die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns und für mehr und bessere Investitionen.

Ich hoffe, ich konnte Ihre Frage beantworten und Ihnen meine Position zu dem Thema deutlich machen.

Herzliche Grüße

Ihre Annalena Baerbock

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