Frage an Annalena Baerbock von Christof S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Hallo!
Wie stehen Sie zur Wehrpflicht?
mit freundlichen Grüßen
Christof Schnur
Lieber Herr Schnur,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Die Wehrpflicht ist meiner Meinung nach aus zahlreichen Grünen nicht mehr zu rechtfertigen und sollte daher, wie von den Grünen seit langem gefordert, abgeschafft werden.
Hauptgrund für ein Ende der allgemeinen Wehrpflicht ist für mich, dass sie einen tiefen Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte junger Männer bedeutet, der in Friedenszeiten und 20 Jahre nach dem Fall der Mauer sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar und damit auch nicht mehr verhältnismäßig ist:
- Deutschland ist nur noch von Freunden umgeben, eine existenzielle Bedrohung, die nur mit Hilfe einer Wehrpflichtarmee abgewendet werden könnte, gibt es nicht mehr.
- NATO und EU sind auf 28 bzw. 27 Staaten angewachsen, weitere Staaten werden folgen.
- Fast alle Bündnispartner haben auf die Wehrpflicht verzichtet und die Streitkräfte weiter verkleinert und transformiert.
- Der Auftrag der Bundeswehr hat sich verändert. Statt territoriale Landesverteidigung oder Bündnisverteidigung steht kollektive Friedenssicherung im Mittelpunkt.
- Im Gegensatz zu ihren weiblichen Altersgenossen oder zu Gleichaltrigen aus Ländern, die die Wehrpflicht nicht mehr praktizieren, sind deutsche Wehrpflichtige erheblich benachteiligt. Auch unter den Wehrpflichtigen ist die Heranziehung zur Lotterie geworden.
Zudem ist ein Ausstieg aus der Wehrpflicht auch im Interesse der Bundeswehr. Die Bundeswehr als Einsatzarmee braucht für die Aufgaben von heute gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten und keine Wehrpflichtigen. Schon heute werden in Auslandseinsätzen nur Freiwillige eingesetzt. Ihre Kernaufgabe in internationalen Einsätzen ist es zu stabilisieren und zu schützen, um nicht kämpfen zu müssen. Darauf muss die Bundeswehr vorbereitet sein. Dieser Aufgabe, die einer guten Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten bedarf, steht jedoch die Aufrechterhaltung des Wehrpflichtsystems entgegen. Denn dies bindet Personal und verschwendet dringend gebrauchte Ressourcen. Schätzungen gehen davon aus, dass für die Ausbildung und Betreuung von 30.000 Wehrpflichtigen 10.000 Soldaten gebraucht werden. Der Ausbildungsaufwand ist groß, der Nutzen für Wehrdienstleistenden und Dienststelle gering, die Unzufriedenheit über den „Gammeldienst“ groß. Eine weitere Verkürzung der Dienstzeit würde das Kosten-Nutzen-Verhältnis weiter ad absurdum führen. Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass die Wehrpflicht für die Betroffenen und für die Volkswirtschaft reine Ressourcenverschwendung ist. So kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zum Ergebnis: "Aus ökonomischer Sicht ist eine Berufsarmee einer Wehrpflichtarmee vorzuziehen, sie ist volkswirtschaftlich kostengünstiger und ordnungspolitisch sinnvoller als eine Wehrpflichtarmee."
Bei 88 Prozent Freiwilligen in der Bundeswehr ist der Ausstieg aus der Wehrpflicht auch in Deutschland eh schon weit vorangeschritten. Die Befürchtung, dass die Bundeswehr zum Staat im Staat wird, ist nicht eingetreten und unberechtigt. Eine Freiwilligenarmee ist sicherheits- und bündnispolitisch machbar. Die Weizsäcker-Kommission zur Zukunft der Bundeswehr kam im Mai 2000 zu dem Ergebnis, dass im Vergleich mit unseren Bündnispartnern eine Freiwilligenarmee von 220.000 Soldatinnen und Soldaten ausreicht, um alle bündnis- und sicherheitspolitischen Herausforderungen zu meistern. Inzwischen haben unsere Bündnispartner ihre Streitkräfte weiter reduziert und die Wehrpflicht faktisch abgeschafft. Außer Deutschland halten nur noch 5 der 28 NATO und 7 der 27 EU-Staaten an der Wehrpflicht fest, darunter Griechenland, Zypern und die Türkei. Allein in den vergangenen zehn Jahren haben 16 EU- oder NATO-Partner die Wehrpflicht für sicherheitspolitisch verzichtbar gehalten und abgeschafft. Die USA, GB, Irland und Kanada verzichten seit Jahrzehnten in Friedenszeiten auf die Wehrpflicht.
Ich denke, dass die Zeit mehr als reif ist, dass auch Deutschland diesem Vorbild folgt und auf die Wehrpflicht verzichtet. Wir Grünen wollen in diesem Zusammenhang die Bundeswehr auf 200.000 Soldatinnen und Soldaten verkleinern, den Zivildienst umwandeln und die Freiwilligendienste ausbauen. In der Bundeswehr wollen wir einen freiwilligen militärischen Kurzdienst von zwölf bis 24 Monaten einführen, der Frauen und Männern offen steht. Die Bundeswehr soll eine Freiwilligenarmee im Auftrag des Parlamentes werden.
Ich hoffe Ihnen damit eine zufriedenstellende Antwort auf Ihre Frage gegeben zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Annalena Baerbock