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Anna Lührmann
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Frage von Dennis G. •

Frage an Anna Lührmann von Dennis G. bezüglich Soziale Sicherung

Liebe Frau Lührmann,

in der Frankfurter Rundschau las ich soeben, dass sie sich der Kritik einiger "junger" Abgeordneter bezüglich der außerplanmäßigen Rentenerhöhung angeschlossen haben. Ihr Argument ist, diese Erhöhung ginge "einseitig zulasten der Arbeitnehmer".

Wie, frage ich Sie, soll ein solidarisches Umlagesystem denn sonst organisiert werden? Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die derzeitige Teuerungsrate, vor allem bei Gütern des täglichen Bedarfs, bei vielen Rentnerinnen und Rentnern zu unzumutbaren Härten führt? Wie sonst wollen sie verhindern, dass hunderttausende Rentnterinnen und Rentner so schleichend in die Armut getrieben werden? Was nützt es den nicht im Exportsektor verdienenden Arbeitnehmern, wenn einer einstmals mächtigen Konsumentenschicht nach und nach die Basis entzogen wird, die Massenkaufkraft noch weiter erodiert und wir uns volkswirtschaftlich in ein immer tieferes Loch manövrieren?

Warum sehen sie ein mögliches Anwachsen der Rentenbeiträge als einseitige Belastung der Arbeitnehmer an? Werden die Arbeitgeber daran etwa nicht mehr beteiligt? Tragen nicht gerade die Arbeitnehmer die Hauptlasten der Rentenreformen der letzten Jahre (-> "Zwang" zur Privatvorsorge, Riester, Rürup), wobei zugleich die Arbeitgeber entlastet wurden? Wird hier nicht bewußt abgelenkt vom Konflikt zwischen "Arbeit und Kapital" und stattdessen seit Jahren eine schäbige Ausweichdebatte um "Generationengerechtigkeit" geführt?

Ich weiß, das sind gleich viele Fragen auf einmal, die aber alle in die eine Richtung zielen: Warum hält es das heutige parlamentarische Establishment für so verwerflich zum alten Rentenmodell zurückzukehren? Und bitte kommen Sie mir nicht mit dem abgeschmackten Demografie"problem", als hätten wir noch nie etwas vom Mackenroth-Theorem gehört ;-)

Frohes Schaffen wünscht Dennis Geisler (auch Student der Politik und Organisation)

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Lieber Herr Geisler,

zunächst möchte ich betonen, dass mir die schwierige Lage von Rentnerinnen und Rentner mit geringen Alterseinkünften bewusst ist. Auch viele Familien, Geringverdiener und Arbeitslosengeld- und Grundsicherungsbezieher leiden unter den krassen Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass der Aufschwung bei allen Bürgerinnen und Bürgern ankommt.

Mein Ziel ist es, der jungen Generation eigene Handlungsspielräume zu erhalten und gleichzeitig der älteren Generation einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Denn die Rentnerinnen und Rentner haben viel geleistet für unser Land. Wir verdanken ihnen ein Aufwachsen in Frieden und Wohlstand. Ich will also keinen Konflikt "Jung gegen Alt" anfachen. Es geht mir vielmehr darum, die Interessen aller Generationen miteinander zu vereinbaren und den Generationenvertrag gerecht zu gestalten.

Denn unser umlagefinanziertes Rentensystem wurde zu einer Zeit geschaffen, in der viele Beitragszahler relativ wenigen Rentenempfängern gegenüberstanden. Haben vor 30 Jahren noch drei Arbeitnehmer einen Rentenempfänger finanziert, so wird in weiteren 30-40 Jahren das Verhältnis bei 1:1 ankommen. Obwohl die demographischen Probleme erst noch auf uns zu kommen, stammt bereits heute jeder dritte Renten-Euro aus dem Bundeshaushalt.

Auch das Mackenroth-Theorem („Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss.“) stellt die private Altersvorsorge in Frage – jedoch nicht das in Ihren Worten „abgeschmackte“ Demografie- Problem. Denn das Mackroth-Theorem weißt ja gerade auf das Problem des demographischen Wandels hin: Zukünftig müssen wenige Beitragszahler viele Rentner finanzieren. Das ist keine Annahme – das ist heute schon Realität. Denn die Menschen, die davon betroffen sind, leben heute ja schon. Selbst mit deutlichem Bevölkerungswachstum ist daran nichts mehr zu ändern.

Die Rentenversicherung muss eine zuverlässige finanzielle Absicherung für die Rentnerinnen und Rentner bieten. Zugleich muss die Rente für die Beitragszahler planbar und finanzierbar sein.

Daher ist es richtig, dass die Entwicklung der Renten von der Entwicklung der Löhne und Gehälter abhängig ist. Steigen die Erwerbseinkommen, werden die Renten jeweils am 1. Juli angepasst. Darüber hinaus wird die Entwicklung der Renten von zwei Faktoren bestimmt. Zum einen berücksichtigt der so genannte Riesterfaktor, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute stärker belastet sind, weil sie mehr Geld in die private Vorsorge investieren müssen. Zum anderen berücksichtigt der Nachhaltigkeitsfaktor die demographische Entwicklung und das sich verschlechternde Verhältnis zwischen Rentnern und Beitragszahlern. Er stellt sicher, dass die Auswirkungen einer Zu- oder Abnahme der Beitragszahler oder Rentner gerecht auf Jung und Alt verteilt werden. Dieser Faktor ist auch deshalb notwendig, weil vor 30 Jahren der durchschnittliche Rentner rund 11 Jahre lang Rente bezog. Heute werden durchschnittlich über 17 Jahre Rente bezogen.

Die Renten würden gemäß der beschriebenen Formel am 01. Juli 2008 um 0,54 % steigen. Diese Steigerung ist richtig und unbestritten. Nun plant die Bundesregierung den so genannten Riesterfaktor für zwei Jahre aussetzen. In der Folge würden die Renten um weitere 1,1 % ansteigen.

Die Gründe, warum die Vorgehensweise der Bundesregierung falsch ist:

1. Keine Rentenpolitik nach Kassenlage sondern nach verlässlichen Kriterien Rentenpolitik muss verlässlich sein. Deshalb wird die Rente nach einer klar definierten Formel ausgezahlt und hängt nicht von der Willkür des Finanzministers ab. Die Rentnerinnen und Rentner verlassen sich darauf, dass in wirtschaftlich schlechten Zeiten die Rente nicht gekürzt wird. Was in schlechten Zeiten gilt, muss aber auch in guten Zeiten Bestand haben. Deshalb ist es richtig, dass die Rente in Zeiten mit Lohnsteigerungen genau nach der Rentenformel steigt und es keine zusätzlichen Steigerungen als Wahlgeschenke oben drauf gibt. Die von der Bundesregierung geplante willkürliche Aussetzung der Rentenformel kann mittel- und langfristig auch den Renterinnen und Rentnern schaden.

2. Die zusätzliche Rentenerhöhung belastet einseitig die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Durch die von der Regierung geplante Aussetzung des Riesterfaktors werden einseitig die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belastet. Denn die Mehrkosten von über 1 Mrd EUR werden unter anderem durch die Einnahmen der Rentenbeitragssteigerung von 19,5 auf 19.9% im letzen Jahr finanziert. Ich habe mich mit meinen Äußerungen bewusst vor allem auf die Arbeitnehmer bezogen auch wenn die Beiträge partiätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert werden, weil steigende Lohnnebenkosten nicht nur zur Folge haben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer netto weniger in der Tasche haben und gleichzeitig Arbeitskosten verteuert werden. Dies führt auch zu Belastungen bei Arbeitnehmern und Arbeitslosen, weil dann weniger Arbeitsplätze geschaffen werden.

3. Der Aufschwung muss bei allen Menschen ankommen Alle Bürgerinnen und Bürger sollten vom Aufschwung profitieren. Deshalb haben die Gewerkschaften Recht, für 2008 höhere Lohnabschlüsse zu fordern. Außerdem brauchen wir einen Mindestlohn und eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II. Durch diese Maßnahmen würden die Renten durch die Rentenformel automatisch auch deutlich ansteigen

Ich weiß, dass es für viele Betroffene nicht leicht ist, meine Position nachzuvollziehen. Selbstverständlich gönne ich jedem persönlich eine stärkere Erhöhung der Renten, als Politikerin muss ich jedoch die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die Kosten der Alterung der Gesellschaft gerecht zwischen den Generationen verteilt werden. Die heute Erwerbstätigen müssen daher länger arbeiten und höhere Beiträge zahlen. So können die Renten weiter ausgezahlt und auch gemäß der Rentenformel erhöht werden (2008 um 0,54 %). Im Gegenzug sollten aber auch die Rentnerinnen und Rentner keine zusätzlichen, außerplanmäßigen Rentensteigerungen bekommen.

Mittel- und langfristig muss das Rentensystem grundlegend umgebaut werden um das Ziel einer angemessenen Grundsicherung im Alter für alle zu gewährleisten. Sie fordern eine Rückkehr zum „alten Rentenmodell“. Das „alte Rentenmodell“ (beruht übrigens auf der Mackenroth-These) hatte einen großen Geburtsfehler. Adenauer setzte hat bei der Einführung der dynamischen, lohnbezogenen Rente das Konzept von Wilfried Schreiber nur teilweise um. Erstens sollte die „Gesamtheit aller Arbeitstätigen“ in die Rentenversicherung einbezogen werden. Zweitens sollte auf „staatliche Zuschüsse“ grundsätzlich verzichtet werden. Drittens sollte ein Kinder- oder Demografie-Faktor eingebaut werden. Auf all dies wurde verzichtet, was in der Folge zu der dramatischen Schieflage des Rentensystems führt. (Mehr zu Wilfried Schreiber findet man bspw. bei http:// de.wikipedia.org/wiki/Wilfrid_Schreiber)

Daher sollte man nicht versuchen, die Uhren um Jahrzehnte zurückzustellen, sondern aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Daher befürworte ich den grundlegenden Umbau der Rentenversicherung zu einer Bürgerversicherung, die neben den abhängig Beschäftigten auch Beamte, Selbständige und Politiker in die solidarische Umlage mit einbezieht.

Herzliche Grüße & Viel Erfolg beim Fernstudium,

Anna Lührmann

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