Frage an Anja Weisgerber von Peter D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Fr. Dr. Weisgerber,
Bundeswirtschaftsminister Altmaier fordert eine Reform des politischen Systems, mit dem Ziel, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. U.a. fordert er eine stufenweise Reduzierung der Abgeordneten, ein Maximum für Staatsminister, eine deutliche Reduzierung der Staatssekretäre und Regierungsbeauftragten sowie eine Verlängerung der Wahlperiode. Wie bewerten Sie diese Forderungen von Hr. Altmaier und wie könnte eine Reform des Systems nach Ihren Gesichtspunkten aussehen?
Sehr geehrter Herr Dieterich,
vielen Dank für ihr Schreiben vom 8.11.2019!
Auch ich sehe einen dringenden Bedarf, das politische System in dieser Hinsicht zu reformieren. Das geltende „personalisierte Verhältniswahlrecht“ ist dabei durch wesentliche Elemente gekennzeichnet, die miteinander verbunden sind:
1. Es gibt in Wahlkreisen durch die Erststimme mit relativer Mehrheit gewählte Abgeordnete (personales Element).
2. Die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag insgesamt sind im Wesentlichen proportional zu den von den Parteien erhaltenen Zweitstimmen (Verhältniswahl).
3. Es erfolgt eine im Wesentlichen gleichgewichtige Verteilung der Mandate nach Einwohnerzahlen und erhaltenen Stimmen auf die Länder und die Landeslisten der Parteien (föderatives Element).
Obwohl das geltende Wahlrecht grundsätzlich von einer Mandatszahl von 598 Abgeordneten bei 299 Wahlkreisen ausgeht, besteht der Deutsche Bundestag auf der Grundlage des Wahlergebnisses vom September 2017 aus 709 Abgeordneten (299 direkt, 410 über Listen gewählte Abgeordnete). Dies ergibt sich daraus, dass nach diversen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unser derzeit geltendes Wahlrecht einen vollumfänglichen Ausgleich von Mandaten nach dem Proportionalitätsprinzip vorsieht, um Verzerrungen der Erfolgswertgleichheit zu begegnen.
Jede neue Partei, die mehr Direktmandate als Zweitstimmen bekommt, erhöht so die Gesamtzahl an Sitzen im deutschen Bundestag. Die Anzahl der Sitze steigt, bis alle Parteien wieder proportional zu den anderen Parteien so viele Sitze haben, wie ihnen nach der Zweitstimmenverteilung zustehen. So ist jede neue Partei, die es in den Bundestag schafft, erstmal auch ein Multiplikator für die gesamte Abgeordnetenzahl. Wenn jetzt noch eine Partei dazukommt könnte die Anzahl der Abgeordneten sogar über 1.000 steigen. Größere Parteien, so wie die CDU/CSU, profitieren von diesem System, weil es verhindert, dass kleine Parteien nicht über Direktmandate mehr Sitze bekommen, als ihnen proportional zustehen. Dennoch gestaltet sich die Arbeit im Bundestag mit zu vielen Abgeordneten zunehmend schwierig für alle Parteien. Damit wir weiter in der Lage sind effizient zu arbeiten, wäre es auch meiner Ansicht nach besser, die Anzahl der Abgeordneten möglichst bald wieder zu reduzieren.
In laufenden Diskussionen haben sich die Kolleginnen und Kollegen der FDP, von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und DIE LINKE vor allem auf die Möglichkeit der Streichung von Wahlkreisen konzentriert. Dabei haben die vom Bundeswahlleiter erstellten Berechnungen aber gezeigt, dass sich durch eine Verringerung der Wahlkreise allein keine nennenswerte Reduzierung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages erreichen lässt.
Uns ist dagegen die Repräsentanz durch in Wahlkreisen gewählte Abgeordnete außerordentlich wichtig. Damit wird ein unmittelbarer Bezug zur örtlichen Wahlbevölkerung sichergestellt. Wahlkreisabgeordnete vertreten das ganze Volk, aber haben gleichzeitig eine sichtbare Rückkopplung an eine konkrete Wahlbevölkerung. Das ist ein wichtiges Zeichen demokratischer Repräsentanz.
Eine dauerhafte Lösung ließe sich entweder durch eine komplexe mathematische Regression der Überhangsmandate, bis die Gesamtzahl unter einem festgelegten maximalen Abgeordneten-‚Deckel‘ liegt, erreichen. Oder durch einen vollständigen Systemwechsel: Der eine Teil der Abgeordneten wird mit der Erststimme direkt gewählt, der andere Teil der Abgeordneten mit der Zeitstimme über Landeslisten. Die direkt gewählten Abgeordneten werden nicht auf die Landeslisten angerechnet. Dadurch würde sowohl die Repräsentanz von Wahlkreisabgeordneten gesichert als auch dem Proportionalitätsprinzip Rechnung getragen. Es wäre ein echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht, bei dem beiden Stimmen entsprechendes Gewicht zukommt – einmal für den Wahlkreis und einmal für die Liste. Gleichzeitig ließe sich eine klar definierte Bundestagsgröße etwa bei 598 Abgeordneten festlegen. Sämtliche im derzeitigen personalisierten Verhältniswahlrecht erörterten verfassungsrechtlichen Probleme wie etwa das von Überhangmandaten oder negativem Stimmgewicht und anderen inversen Effekten würden dadurch ausgeschlossen. Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag würde wieder einfach und allgemein verständlich.
Mit freundlichen Grüßen
Anja Weisgerber