Frage an Andreas Lämmel von dieter z. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
sehr geehrter herr lämmel,
die nächsten wahlen stehen an und ich gehöre inzwischen zur wachsenden gruppe der nichtwähler, weil keine partei auch nur annähernd meine (unsere) interessen vertritt. ich würde allerdings meine stimme einer partei geben, die sich ernsthaft für direkte demokratie (volksabstimmungen, volksbefragungen usw.) einsetzt. wie stehen sie und ihre partei zu diesem thema? falls sie positiv dazu stehen: wie würden sie sich verhalten, wenn volksabstimmungen (permanent) ergebnisse zeitigten, die ihren ansichten und überzeugungen zuwiderlaufen?
ich grüße sie freundlich
dieter zickert
Sehr geehrter Herr Zickert,
vielen Dank für Ihre Anfrage auf abgeordnetenwatch.de, die ich gern beantworte.
Das Thema Volksbegehren/Volksentscheid wird im Moment diskutiert. Volksbegehren und Volksentscheide gibt es auf Landesebene in allen Bundesländern und im kommunalen Bereich. Dort halte ich dieses Instrument auch für sehr sinnvoll. Als Beispiel möchte ich den Bürgerentscheid zur Dresdner Waldschlösschenbrücke nennen. Auf Bundesebene halte ich Volksbegehren/Volksentscheide bis auf Ausnahmefälle (z. B. Abstimmung über EU-Verfassung, Neugliederung des Bundesgebietes) allerdings für kein geeignetes Mittel, um die Politikverdrossenheit, die immer wieder als Argument angeführt wird, zu bekämpfen. Die Gründe für meine Einschätzung möchte ich Ihnen an dieser Stelle kurz nennen.
Nach einer Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene halte ich es für wahrscheinlich, dass insbesondere bei häufigem Einsatz des Instruments ein Abnutzungseffekt eintritt, so dass die Politikverdrossenheit nicht viel geringer wäre als sonst. Die Beteiligung an Volksabstim-mungen, etwa in der Schweiz, wo diese teilweise im Wochentakt stattfinden, ist vor allem bei unwichtigeren Fragen sehr gering. Die Kosten dafür sind demgegenüber jedoch sehr hoch.
Außerdem sehe ich die Gefahr, dass Gesetze über den plebiszitären Umweg gemacht werden, um die Verantwortung für folgenschwere Entscheidungen abzugeben. Schon alleine die „Drohung“ einer politischen Gruppierung mit einem Volksentscheid zu einem kontrovers diskutierten Thema würde unter Umständen eine Medienschlacht auslösen und zu einer Polarisierung im Volk führen. Insofern ist ein Volksentscheid praktisch mit einer Wahl gleichzusetzen. In einer solchen aufgeheizten Atmosphäre wäre eine auf Kompromiss und Ausgleich bedachte parlamentarische Diskussion kaum noch möglich. Der Minderheitenschutz wäre gefährdet, da weder die Gruppen, die für die „richtige“ Entscheidung werben, noch die Stimmbürger dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Einige Gruppen können sich selber auch nicht so effektiv vertreten wie andere, zum Beispiel Kinder oder Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen.
Ein Plebiszit bedeutet, auch hochkomplexe Sachverhalte auf ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ reduzieren zu müssen. Demgegenüber ist die Entscheidungsfindung im parlamentarischen Prozess auf einen möglichst gerechten Interessenausgleich und auf Suche nach Kompromis-sen ausgerichtet. Plebiszite kennen keine Ausschussberatungen, Sachverständigen-anhörungen und keine Beteiligung der Länder. Im Gegenteil: Wenn im Bund plebiszitär entschieden wird, endet der Föderalismus.
Aus diesen und anderen Erwägungen werde ich mich daher nicht für die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene einsetzen. Was die Ergebnisse von Volksabstimmungen auf kommunaler und auf Landesebene angeht, so bin ich selbstverständlich der Überzeugung, dass diese umgesetzt werden müssen, auch wenn ich Sie selbst für falsch halte.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für das neue Jahr
Andreas Lämmel