Frage an Andreas Lämmel von Pierre V. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Lämmel,
aus Ihren bisherigen Antworten zur Vorratsspeicherung habe ich entnommen, dass Sie kaum Parallelen zu sogenannten Stasimethoden erkennen können. Sie begründen diese Auuffassung damit, dass die gespeicherten Daten "ausschließlich zur Strafverfolgung eingesetzt [werden], nicht zum Bespitzeln von Bürgern und Bürgerinnen".
Wie Sie vielleicht wissen, haben die Mitarbeiter der Staatssicherheit nicht einfach nur zum Spaß (bzw. weil sie es konnten) ihr Volk bespitzelt. Sie taten es, um die Arbeiter und Bauern vor sich selbst und ´zersetzenden´ Einflüssen zu schützen. Aus dem gleichen Grund gab es Mauertote.
Sie halten es für "abenteuerlich", wenn besorgte Bürger all die kleinen und großen seit 9/11 eingeführten "Freiheitsverkürzungen" (O-Ton W. Schäuble) mit denen vergangener Unrechtsregimen vergleichen.
Ich halte es für abenteuerlich, dass Sie diese Vergleiche mit dem Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands abtun. Auch China, Russland und Italien sind Rechtsstaaten - Regimegegner oder kritischer Journalist will ich dort nicht sein.
Das Deutschland der Zwanziger Jahre war ebenfalls ein Rechtsstaat. Aber wenn Hitler ein Rattenfänger war, muss irgendwer für all die Ratten verantwortlich gewesen sein, die ihn wählten.
Langer Text, kurzer Sinn - Hier meine Fragen:
1. Was unterscheidet ihrer Meinung nach den Rechtsstaat Deutschland von anderen?
2. Wann ist auch für Sie die Grenze zum Unrechtsstaat überschritten?
3. Wie stehen Sie zur Tatsache, dass die Gesetzgeber geltendes Recht durch immer neue Zusätze und Umformulierungen ´anpassen´ und so u. U. dafür sorgen, dass aus Unrecht Recht wird?
4. Warum sollten Bürger den Herrschenden vertrauen, wenn das Umgekehrte nicht zutrifft?
5. Warum glauben Sie, ist es nötig, Bürgerdaten zu speichern, wenn diesem Land die größten Schäden durch Wirtschaftskriminalität, politische Windmühlenkämpfe sowie Fehlplanungen auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene entstehen?
Mit freundlichem Gruß,
Pierre Vlcek.
Sehr geehrter Herr Vlcek,
vielen Dank für Ihre Fragen vom 28. November 2007 zur „Vorratsdatenspeicherung“, die ich gern beantworte, auch wenn ich zugeben muss, dass der hohe Anteil der Fragen dazu den Einruck vermittelt, als sei dies zurzeit das einzig kontrovers diskutierte politische Thema von Bedeutung. Dem ist aber nicht so. Alle Bürgerinnen und Bürger, die mir in Zukunft weitere Fragen zur "Vorratsdatenspeicherung" stellen wollen und dies hier lesen, bitte ich um Verständnis, dass ich aus Zeitgründen darauf nicht mehr individuell antworten kann und stattdessen auf meine zahlreichen Statements zu diesem Thema auf www.abgeordnetenwatch.de verweisen werde. Vielen Dank im Voraus für Ihr Verständnis!
Sehr geehrter Herr Vlcek, gestatten Sie mir vorab folgende Bemerkungen: Sie selbst machen den Unterschied zwischen der jetzt beschlossenen Auswertung von gespeicherten Telekommunikationsdaten für eine wirksame Strafverfolgung und der Bespitzelung von Bürgerinnen und Bürger zu DDR-Zeiten deutlich: Die Aufklärung von Straftaten steht einem Schutz der „Arbeiter und Bauern vor sich selbst und zersetzenden Einflüssen“ als Motiv gegenüber. Letztere Rechtfertigung ist so diffus, dass man damit alles rechtfertigen kann, rechtsstaatliche Grenzen existieren nicht. Auf die demgegenüber bei der „Vorratsdatenspeicherung“ sehr wohl vorhandenen rechtsstaatlichen Grenzen (u. a. konkreter, durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht, keine anderweitige Möglichkeit der Aufklärung, Richtervorbehalt, Löschfrist nach 6 Monaten, keine Speicherung von Gesprächsinhalten, Informationspflicht bei Abruf im Nachgang) bin ich in vergangenen Antworten schon eingegangen.
Lassen Sie mich präzisieren: Nicht der VERGLEICH zwischen den Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung zu „Freiheitsverkürzungen vergangener Unrechtsregime“ ist für mich abenteuerlich, sondern die GLEICHSETZUNG zwischen beidem. Auch wenn ich mich in meiner Antwort an Herrn Wappler nicht explizit auf „Gleichsetzung“ bezogen habe, so wurde dies, glaube ich, aus dem Zusammenhang heraus deutlich. Selbstverständlich steht es jedem frei, Vergleiche anzustellen. Ich bedaure, wenn hier durch meine Antwort ein anderer Eindruck entstanden sein sollte.
Im Übrigen – weil Sie dieses Beispiel bringen: Haben Sie sich schon mal überlegt, dass die Weimarer Republik auch deswegen zerstört werden konnte, weil die damalige Demokratie nicht wehrhaft genug gegen Extremisten und die erklärten Feinde der Demokratie war? Ein Grundsatz der wehrhaften Demokratie ist die Möglichkeit, Parteien und sonstige Vereinigungen zum Schutz der Verfassung zu verbieten sowie Gegnern der verfassungsmäßigen Ordnung Grundrechte abzuerkennen (!). Dies zeigt, dass Grundrechte unter Vorbehalt stehen können.
Zu Frage 1:
Als „Rechtsstaat“ bezeichnet man Staaten, in denen das Handeln der staatlichen Organe gesetztem Recht (d.h. einer Verfassung, in Deutschland dem Grundgesetz) untergeordnet ist, damit den Individuen bestimmte unverbrüchliche Grundrechte zustehen und staatlichem Handeln bestimmte Grenzen gesetzt sind und alles staatliche Handeln dem (Verfassungs-) Recht und der Verwirklichung von Gerechtigkeit dient und zumeist (so in Deutschland) der richterlichen Kontrolle unterliegt (Definition nach Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006).
Formelle Freiheitsgarantien, die weltweit „Rechtsstaaten“ charakterisieren, sind: Gesetzmäßigkeit im Sinne von Begründungspflicht staatlichen Handelns, Gewaltenteilung, Verhältnismäßigkeit, Rückwirkungsverbot sowie das Vorhandensein von Grundrechten und Sicherungsmechanismen. Die inhaltliche (materielle) Bestimmung der Staatsziele kann dagegen von Rechtsstaat zu Rechtsstaat unterschiedlich ausfallen und tut es auch.
Ein zentrales inhaltliches Merkmal ist im deutschen Grundgesetz durch den Bezug auf über-positives Naturrecht gegeben: Der Schutz der „Menschenwürde“ findet sich ausdrücklich in der Verfassung wieder. Bei den meisten Rechtsstaaten – aber nicht bei allen – ist dies der Fall. Ich kann hier keine ausführlichen Vergleiche anstellen und möchte nur beispielhaft eine Besonderheit in den Verfassungen der osteuropäischen EU-Beitrittsländer nennen: In zwei Dritteln dieser Staaten ist der Umweltschutz nicht nur als Staatszielbestimmung verankert, sondern auch als Grundpflicht der Bürger normiert.
Zu Frage 2:
Die Grenze zum Unrechtsstaat ist bei wiederholter Übertretung der unter 1. genannten formellen Prinzipien überschritten. Der extreme Gegenpol zum Rechtsstaat ist zum Beispiel ein Polizeistaat oder eine Diktatur. Dort hält sich der Staat an keinerlei Verfassung. Die Grenzen sind in der Realität oft fließend. Das ist z.B. dann der Fall, wenn ein Land formell (gesetzestechnisch) die Anforderungen an einen Rechtsstaat erfüllt, aber in der Praxis diese Prinzipien nicht umgesetzt werden, etwa wenn die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der Judikative durch Klüngel, Bestechungen, subtile Drohungen, finanzielle Abhängigkeit o. ä. in der Realität nicht vorhanden ist.
Deutschland ist auch nach Einführung der „Vorratsdatenspeicherung“ ganz klar ein Rechtsstaat. In einer Studie zum Demokratie-Index vom „Economist“ (22.11.2006) kommt Deutschland von 167 Ländern auf Platz 13 und erreicht einen Index-Wert von 8,82 auf einer Skala von 0 bis 10.
Zu Frage 3:
Diese Frage ist recht unkonkret. Ich gehe davon aus, dass Sie auf den Gesetzgeber in Deutschland abstellen. Die fortwährende Weiterentwicklung und „Anpassung“ von Gesetzen an veränderte Bedingungen und Notwendigkeiten, sich verändernde Werte-Systeme und Mehrheitsmeinungen ist normaler Alltag in einer Demokratie. Ihre Formulierung, dass aus „Unrecht“ „Recht“ werden kann, weist auf das Spannungsverhältnis zwischen positivem (staatlich gesetzen) „Recht“ in Form von Gesetzen und einem Rechtsverständnis als „Recht“ im Sinne von Naturrecht/Menschenrecht bzw. Gerechtigkeit hin. Im Dritten Reich hat sich gezeigt, dass positives Recht dazu missbraucht werden kann, selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren. (Diskrepanz zwischen Legalität und Legitimität).
Durch die Einführung der „Vorratsdatenspeicherung“ werden jedenfalls keine Menschenrechte verletzt. Weiterhin darf ich aus einem Koalitionsantrag „Speicherung mit Augenmaß“ (BT-Drs. 16/545 vom 07.02.2006) zitieren, wo es heißt:
„[…] Die Einführung gesetzlicher Speicherungspflichten für Telekommunikationsverkehrsdaten greift (…) in die Grundrechte sowohl der Nutzer als auch der Anbieter von Telekommunikationsdiensten ein; […] Eingriffe in diese Grundrechte […] sind besonders schwerwiegend und bedürfen deshalb einer besonderen Rechtfertigung.
Die genannten Grundrechte sind jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet. Ihre gesetzliche Einschränkung ist zur Verfolgung vernünftiger Gemeinwohlbelange, wie etwa der Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung in bestimmten Kriminalitätsbereichen, zulässig, wenn hierbei insbesondere die Grenzen der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden […].“
Zu Frage 4:
Zuerst einmal: In einer Demokratie gibt es keine „Herrschenden“, was Sie meinen ist „Regierung“. Die Zeiten von Absolutismus und Untertanentum sind längst vorbei. Jeder kann sich in unserer Gesellschaft und in den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess einbringen, wählen gehen oder sich für ein Mandat bewerben. Es steht Ihnen frei, für Ihre Position zu werben und politische Mehrheiten dafür zu organisieren, auch wenn sie sich von meiner Position unterscheidet.
Es trifft nicht zu, dass die Regierung bzw. die Parlamentarier den Bürgern nicht vertrauen. Wir müssen aber neben den Grundrechten der Straftäter auch die Grundrechte der Opfer von Straftaten berücksichtigen. Ein solches Grundrecht liegt in der Aufklärung von Straftaten. Dafür ist die Speicherung von Telekommunikationsdaten ein notwendiges und angemessenes Mittel.
Zu Frage 5:
Die Speicherung von Telekommunikationsdaten ist notwendig zur Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten wie z. B. Terrorismus und organisierter Kriminalität.
Sehr geehrter Herr Vlcek, ich hoffe, ich konnte Ihnen meine Position verständlich machen und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen,
Andreas Lämmel