Frage an André Martens von Florian K. bezüglich Wirtschaft
Guten Tag Herr Martens,
1. Meinen Sie das Deutschland bereit wäre für liquid democracy?
2. Beim lesen des Parteiprogramms hat mir vor allem eine Vision eines funktionierenden Wirtschaftssystem gefehlt. Vielen Menschen wird bewusst, dass unser derzeitiges zumindest so nicht funktioniert. Welche Fehler sehen Sie in unserem Wirtschaftssystem und wohingehend würden Sie es gerne verändern.
(Extra Punkte gibt es bei den Stichworten: Zins und Zinseszins) :)
Viele liebe Grüße von einem Freiburger Jungwähler, der sich noch zwischen den Linken und den Piraten entscheiden muss..
Sehr geehrter Herr Karner,
vielen Dank für die beiden Fragen, mit deren Beantwortung man jeweils ganze Bücher füllen könnte. ;)
Zur Liquid Democracy:
Ich halte Liquid Democracy für ein tolles Konzept, das jetzige Parteiensystem irgendwann überflüssig zu machen. Als Bürger hätte man dann die Möglichkeit, Themen entweder direkt abzustimmen oder die Entscheidung an eine Person des Vertrauens zu delegieren.
Bevor es aber soweit ist, müssen wir das Konzept erst einmal innerhalb der Piratenpartei zum Fliegen bringen. In dieser Hinsicht verstehe ich uns Piraten als eine Art Demokratielabor, um neue Konzepte auszuprobieren. Gerade in Bezug auf Liquid Feedback als derzeitig genutzte Umsetzung von Liquid Democracy in unserer Partei gibt es aber noch einige Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Das Problem ist nämlich, dass es drei Dinge erfüllen muss:
1. Es muss nachvollziehbar sein. Das heißt, dass jeder überprüfen können muss, ob seine Stimme tatsächlich richtig gezählt wurde. Das muss auch über Delegationsketten hinweg funktionieren.
2. Es muss online benutzbar sein. Unser Ziel ist schließlich, das Internet als Möglichkeit zur Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen zu etablieren.
3. Man muss auch anonym abstimmen können. Dies ist notwendig, damit durch ein solches System nicht eine Gesinnungsdatenbank entsteht, die jeden Abstimmenden gläsern macht. Während es für Amts- und Mandatsträger in unserer Partei selbstverständlich sein sollte, dass man die politischen Meinungen und Entscheidungen kennt, gilt das noch lange nicht für alle Piraten der Basis (und schon gar nicht für jeden Bürger). Es hat schon seinen Sinn, dass Wahlen in der Regel anonym und geheim stattfinden. Nur so kann jeder ganz ohne Zwang, Gruppendruck oder Druck vom Arbeitgeber frei abstimmen.
Das Problem ist nun, dass es derzeit keine technische Umsetzung von Liquid Democracy gibt, die alle drei Anforderungen erfüllt. Punkt 3 versuchen wir derzeit zwar über die Entkopplung von bürgerlichem Namen und Account-Namen in Liquid Feedback zu entkoppeln, indem eine Clearing-Stelle dazwischengeschaltet ist. Im Endeffekt ist das aber kein kompletter Schutz. Über passende Datamining-Algorithmen könnte man den Zusammenhang bei vielen doch herstellen. Das ist auch der Grund, warum sich Liquid Feedback bei uns parteiintern auch noch nicht so weit durchgesetzt hat, dass man damit verbindliche Beschlüsse fassen könnte. Dafür sind immer noch Parteitage nötig und das ist derzeit auch gut so.
Also Antwort in kurz: Es handelt sich um eine tolle Idee, die aber erst in unserem Piraten-Demokratielabor reifen muss, bevor man damit auf alle Wähler zugehen kann.
Parallel dazu arbeiten wir aber auch an anderen Plattformen. Über http://openantrag.de/ soll es zum Beispiel den Bürgern einfacher gemacht werden, Anträge an die Piratenfraktionen zu stellen und dann transparent aufbereitet zu bekommen, was genau mit dem Antrag passiert. In Bezug auf solche Ansätze findet man bei anderen Partein rein gar nichts.
Zum Wirtschaftssystem:
Eines unserer Hauptprobleme ist die sture Ausrichtung auf Wachstum. Dabei leben wir aber in Sachen Ressourcenverbrauch schon jetzt deutlich über unsere Verhältnisse. Deshalb sollte zum Beispiel die klassische Bewertung von Wachstum geändert werden. Derzeit ist es ja so, dass das Wachstum des BIP als Grundlage für eine Bewertung herangezogen wird. Das ist aber nicht ausreichend bzw. sogar irreführend. Es führt zum Beispiel zu der absurden Situation, dass die Umstellung eines Produktionsprozesses auf eine energieeffizientere Alternative zu einem Absinken des BIP führt, weil ja weniger Energie- bzw. Ressourcenverbrauch anfällt. Daher muss man die Wachstumsbetrachtung mindestens um Faktoren wie Umweltschutz, Ressourcenverbrauch und Zeitwohlstand erweitern.
Mit unserer Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens bei gleichzeitiger Abkehr von der Idee der Vollbeschäftigung möchten wir einen Paradigmenwechsel. Die zunehmende Automatisierung führt dazu, dass gerade bei geringer Qualifizierten die Jobs immer knapper werden. Daher müssen wir uns intensiver die Frage stellen, ob nun wie bisher der Mensch für die Wirtschaft oder nicht doch lieber die Wirtschaft für den Menschen da sein soll. Gesellschaftlicher Wohlstand sollte dazu führen, dass alle etwas davon haben. Insofern ist eine Umverteilung notwendig.
Zur Zinsproblematik:
Dazu muss ich vorausschicken, dass ich Informatiker und kein Wirtschaftswissenschaftler bin. Aber selbst wenn ich einer wäre, hätte ich vermutlich keine umfassende Antwort. Das ist nämlich ein Problem, das Gelehrte rund um die Welt schon seit Jahrtausenden beschäftigt. Zinsen haben den großen Nachteil, dass sie für eine Umverteilung von unten nach oben sorgen. Wie ein Magnet zieht Kapital noch mehr Kapital an. Das führt zu gravierenden Ungerechtigkeiten. In der Geschichte gab es deshalb immer mal wieder Versuche, über Zinsverbote das Problem in den Griff zu bekommen. Geholfen hat das nie. Im Endeffekt muss es nämlich immer einen Mechanismus geben, der Kapitaleigner dazu motiviert, ihr Geld an diejenigen zu verleihen, die sich damit etwas aufbauen wollen.
Als Privatperson bekommt man aus der Politik widersprüchliche Signale aus der Politik bezüglich des Sparens. Zum einen läuft die Konjunktur nur rund, wenn Geld möglichst im Kreislauf bleibt, zum anderen wird man angehalten für die eigene Rente zu sparen, um die zu erwartende Deckungslücke zu schließen. Absurderweise soll man das zurückgelegte Geld dann aufbrauchen, wenn man in eine längere Arbeitslosigkeit gerät. Hier besteht Korrekturbedarf.
Ich denke, dass es darauf ankommt, eine gesunde Balance zwischen Zinsniveau und Inflationsrate zu haben. Derzeit ist es ja sogar so, dass die Inflationsrate über den Zinsen liegt und wir streng genommen über Negativzinsen auf Kapital sprechen. Nachteil allerdings: Die Inflationsrate ist bei Nahrungsmitteln derzeit am höchsten und betrifft wieder einmal diejenigen, die sowieso schon kein Geld haben. Hier wäre eine schnelle Anpassung von Regelsätzen notwendig. In Bezug auf die Finanzmärkte wäre es im ersten Schritt wichtig, per Regulierungen Transparenz in die Geschäfte zu bringen, ein Trennbankensystem einzuführen und über eine Transaktionssteuer Kurzfristspekulationen unattraktiv zu machen.
Zur Wahlentscheidung: Machen wir uns nichts vor. Weder Linke noch Piraten werden die derzeitigen Marktmechanismen entscheidend beeinflussen können. Unsere Aufgabe würde ich daher zunächst darin sehen, durch kleine und große Anfragen und sonstige Anträge im Bundestag dafür zu sorgen, dass bisher unter Veschluss gehaltene Zahlen transparent gemacht werden müssen, damit dadurch eine vernünftige Debatte zu wichtigen gesellschaftlichen Themen angeregt wird. Gerade weil wir die Partei mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt sind, vertreten wir insbesondere die Interessen von jungen Menschen bei der Suche nach Generationengerechtigkeit am besten. Insbesondere junge Menschen sind nämlich immer öfter von prekären Arbeitsverhältnissen (Befristungen, Praktika, Leiharbeit, Werkverträgen) betroffen und das ist mittlerweile sogar relativ unabhängig vom Bildungsgrad. Die Piraten spiegeln genau diese Generation wieder. Die Linke hat einen Altersdurchschnitt von 62,5 Jahren und liegt damit gut 30 Jahre höher als bei uns Piraten.
Ich hoffe, ich habe die Fragen einigermaßen zufriedenstellend beantwortet. Wir können die Themen gern auch mal bei einem Gespräch an unseren Samtags-Infoständen in der KaJo vertiefen.
Viele Grüße
André Martens