Sehr geehrte Frau Brugger, wie stehen Sie zu den Bestrebungen, die Anzahl der Abgeordnetenmandate im Bundestag zu verringern?
Sehr geehrte Frau S.,
vielen Dank für Ihre Frage zu diesem wichtigen Thema.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Abgeordneten immer weiter gestiegen, nach der letzten Bundestagswahl ist der Bundestag sogar auf aktuell 736 Abgeordnete angewachsen. Das steigert nicht nur die finanziellen Kosten, sondern gefährdet auch die Arbeits- und Funktionsfähigkeit unseres Parlaments, unserer demokratischen Herzkammer. Aber vor allem entsteht eine große Politikverdrossenheit, wenn wir als Abgeordnete nicht den Eindruck ausräumen könnten, dass wir als gewählten Vertreter*innen nicht in der Lage sind, eine solche Reform durchzuführen, weil möglicherweise zu viele um das eigene Mandat fürchten würden.
Seit 10 Jahren gab es mehrere Versuche das Wahlrecht so zu verändern, dass es gerecht bleibt (damit es keine Verzerrungen von Mehrheitsverhältnissen z.B. durch nicht ausgeglichene Überhangsmandate gibt) und der Bundestag zugleich nicht immer weiterwächst. Das ist trotz einigen Versuchen in den letzten Wahlperioden bisher nicht gelungen. Gerade die Wahlrechtsreform der schwarz-roten Bundesregierung, die zur nächsten Bundestagswahl zum ersten Mal angewendet worden wäre, hätte keines dieser Ziele erfüllt und eine Reihe negativer Folgen gehabt. Auf dieser Basis hätte es zu einer unfairen Verzerrung des Wahlergebnisses kommen können, da bis zu drei Überhangsmandate nicht hätten ausgeglichen werden müssen. Dies hätte dazu führen können, dass eine Konstellation zwar bei den Zweitstimmen die prozentuale Mehrheit gewinnen könnte, sich aber bei den Sitzen im Bundestag diese Mehrheit nicht abbildet. Zugleich hätte diese Reform von Union und SPD ein weiteres Anwachsen des Bundestages überhaupt nicht effektiv verhindert. Außerdem wären 19 Wahlkreise gestrichen worden, darunter auch gerade mein ohnehin flächenmäßig sehr große Wahlkreis 294 Ravensburg. Die Streichung und Vergrößerung von Wahlkreisen wäre gerade im ländlichen Raum ein großes Problem gewesen und würde den direkten Kontakt zwischen Bürger*innen und Abgeordneten erschweren.
Mit dem neuen Wahlrecht verhindern wir nach 10 Jahren endlich und zum ersten Mal nachhaltig das weitere Anwachsen des Bundestages und schließen Verzerrung von Mehrheitsergebnissen aus. Der Bundestag wird künftig eine feste Größe von 630 Sitzen haben, das sind über 100 Abgeordnete weniger als derzeit. Dafür schaffen wir Überhang- und Ausgleichsmandate ab und verhindern so, dass der Deutsche Bundestag weiter anwächst.
Die 299 Wahlkreise bleiben wie bisher erhalten und die direkten Wahlkreismandate werden bei der Sitzverteilung voranging berücksichtigt. Bei der übernächsten Wahl wollen wir zudem die Abweichungen bei der Zahl der Wahlberechtigten, die in manchen Wahlkreisen stark auseinander gehen, minimieren (das kann dann auch veränderte Zuschnitte von Wahlkreisen bedeuten).
Die Sitzverteilung richtet sich nun allein nach dem Zweitstimmergebnis. Damit setzen wir den Grundcharakter unseres Wahlsystems, das Verhältniswahlrecht, konsequent um.
Meine Fraktion und auch ich hätten es sehr begrüßt und haben uns im gesamten Prozess sehr dafür eingesetzt, dass wir nach 10 Jahren einen breiten Konsens zwischen allen demokratischen Fraktionen erzielen können, um gemeinsam das Wahlrecht zu ändern und ein breit akzeptiertes Modell zu finden, dass alle Parteien fair trifft und niemandem einen unzulässigen Vorteil verschafft. Dazu haben intensive Gespräche mit den Oppositionsfraktionen von Union und Linke stattgefunden. Leider wurden gerade viele Kolleg*innen der CDU, die sich gerne geeinigt hätten und auch öffentlich entsprechende Botschaften gesetzt haben, einmal mehr von der CSU mit ihren regionalen Sonderwünschen davon abgehalten und ausgebremst. Und es ist auch mehr als offensichtlich, dass sich bei der letzten schwarz-roten Wahlrechtsreform insbesondere die CSU-Änderungen durchgesetzt hat, von denen sie allein überproportional profitiert hätte. Besonders interessant dabei ist, dass die Union in den aktuellen Beratungen am Gesetzentwurf vor ein paar Wochen vor allem die Beibehaltung der Grundmandatsklausel kritisiert hat und gedroht hat mit genau diesem Argument beim Bundesverfassungsgericht klagen zu wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…
Bevor ich gleich nochmal kurz auf die juristischen Feinheiten und unterschiedlichen Rechtsauffassungen zur Grundmandatsklausel eingehe, möchte ich aber auch betonen, dass ich persönlich sehr dafür gewesen wäre trotz nachvollziehbarer juristischer Bedenken die Grundmandatsklausel vorerst beizubehalten. Auch meine Fraktion und unsere Verhandler*innen haben sich ampelintern sehr dafür eingesetzt, konnten sich aber am Ende nicht gegen SPD und FDP in dieser Frage durchsetzen, die sie abschaffen wollten.
Nach wie vor halten wir es für einen sehr hohen Wert, wenn es auch nach dem Beschluss zu einer breiteren Einigung mit Union und Linkspartei kommen würde und sind auch weiterhin zu Gesprächen und Änderungen bereit. Da haben alle demokratischen Fraktionen aus meiner Sicht die Verantwortung aufeinander zuzugehen, um sicherzustellen, dass bei einer möglichen anderen Mehrheitskonstellation in Zukunft, das Wahlrecht nicht schon wieder geändert wird. Es gibt auch bereits mehrere konkrete Ideen wie man auf die aus regionalen Besonderheiten beruhenden Sorgen von CSU und Linkspartei eingehen kann, dass sie bei der nächsten Bundestagswahl noch schlechter abschneiden und die 5 % Hürde nicht erreichen, um einen solch möglichen breiten Konsens zu erzielen. Ich würde es sehr begrüßen und werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass es zu einer breiten und fairen Einigung kommt.
Und nun abschließend ein paar juristische Hintergründe zum Thema Grundmandatsklausel:
Die Grundmandatsklausel ist bereits im jetzigen Wahlrecht eine Durchbrechung des Systems der Verhältniswahl, da sie auf den Erfolg in der Mehrheitswahl in drei Wahlkreisen abstellt. Dadurch kann auch eine Partei unter fünf Prozent in den Bundestag einziehen. Trotz Billigung des Bundesverfassungsgerichts wird diese Klausel in ihrer rechtlichen Zulässigkeit daher schon viele Jahre in Frage gestellt. Aufgrund der konsequenten Umsetzung der Verhältniswahl durch das Prinzip der Zweitstimmendeckung wird der Systembruch im Rahmen der vorliegenden Wahlrechtsreform noch deutlicher. Sachverständige bestätigten in der Öffentlichen Anhörung im Ausschuss diese Zweifel an der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Daher hat sich die Ampel am Ende dafür entschieden, die Grundmandatsklausel aus systemischen Gründen abzuschaffen. Entscheidend ist nicht der Erfolg in einzelnen Wahlkreisen, sondern das Ergebnis der Zweitstimmen in allen Bundesländern. Nur dieses Ergebnis bildet die Mehrheitsverhältnisse im gesamten Bundesgebiet sicher ab.
Als grüne Bundestagsfraktion haben wir seit Jahren konstruktiv an einer wirksamen Wahlrechtsreform gearbeitet und daher war es aus meiner Sicht die richtige Entscheidung, die höchst problematischen Änderungen der schwarz-roten Wahlrechtsänderung mit unserem Beschluss der Wahlrechtsreform zu korrigieren und zugleich unserer gemeinsamen Verantwortung nachzukommen und das jahrelange Ringen um diese Reform beenden. Auf Basis des Koalitionsvertrags, Beratungen in der Wahlrechtskommission und mit renommierten Verfassungsrechtler*innen haben wir als Ampel-Koalition einen Gesetzentwurf erarbeitet. Auch um die Zustimmung der anderen demokratischen Fraktionen haben wir dabei geworben, Gespräche geführt und unseren ursprünglichen Entwurf auch geändert, um eine möglichst breite demokratische Mehrheit zu schaffen.
Mit freundlichen Grüßen
Agnieszka Brugger