Frage an Agnieszka Brugger von Martin H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Malczak,
Sie haben sich zum Libyen-Einsatz kritisch geäußert, aber ich möchte anlässlich dieses neuen Krieges noch weiter fragen. Ich kann mich noch gut an die 1980er Jahre erinnern, als die Grünen der NATO gegenüber sehr kritisch waren, obwohl die NATO damals keine anderen Länder angegriffen hatte, sondern ein reines Verteidigungsbündnis war, und als solches sehr erfolgreich.
Inzwischen aber hat die NATO einen klar völkerrechtswidrigen Krieg geführt (im Kosovo 1999, mit etlichen Kriegsverbrechen, wie etwa den Bombardierungen von Donaubrücken und anderer ziviler Ziele), einen gescheiterten Krieg in Afghanistan mit über 30.000 Toten, und sie führt jetzt einen Krieg gegen den gerade noch allseits hofierten libyschen Autokraten Gaddafi, der im Rahmen des Völkerrechts unmöglich gewonnen werden kann.
Ich frage Sie deshalb: Würden Sie es begrüßen, wenn die Grünen zu ihrer ursprünglichen grundlegend militärkritischen Haltung zurückkehrten und die Auflösung aller Miltärblöcke forderten, also auch der NATO? Oder sind Sie der Ansicht, dass die NATO trotz aller Verbrechen und Fiaskos eine sinnvolle Funktion hat, auch für Deutschland? Wenn ja, welche? Ich habe das bis 1991 verstanden, aber danach nicht mehr.
Mit bestem Dank,
Ihr
Martin Haspelmath
Sehr geehrter Herr Haspelmath,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Auf ihrem Gipfel-Treffen am 19. und 20. November 2010 in Lissabon hat die NATO nach elf Jahren ein neues strategisches Konzept beschlossen. Die Notwendigkeit einer neuen strategischen Ausrichtung der NATO lag angesichts der Veränderungen in den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen auf der Hand.
Gerade die von Ihnen angesprochenen und kritisierten Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan, aber beispielsweise auch der Irak-Krieg, der Kampf gegen den Terrorismus sowie kontroverse Diskussionen um NATO-Erweiterung, Raketenabwehr, Abrüstung und neue Aufgaben wie Cybersecurity oder Ressourcensicherung stellen die Mitgliedsstaaten des Bündnisses vor grundlegende Fragen hinsichtlich der politischen Funktion der NATO in einer globalen Sicherheitsarchitektur und ihrer möglichen Aufgaben. Mit diesen Fragen habe auch ich mich im Zuge der Entstehung des neuen strategischen Konzepts der NATO intensiv auseinandergesetzt und diesen „Selbstfindungsprozess“ aktiv und kritisch begleitet.
Eine Auflösung der NATO zeichnet sich derzeit politisch nicht ab. Aus meiner Sicht muss es deshalb jetzt darum gehen die NATO als transatlantisches Bündnis auf ihren Kernauftrag zu beschränken und die kollektive Sicherheit in den Mittelpunkt stellen. Dabei soll sie sich nicht gegen andere richten, sondern sich auf gute Nachbarschaft und Abrüstung konzentrieren. Ein solches System funktioniert natürlich nicht gegen Russland, sondern nur unter Einbindung Russlands. So kann die Grundlage für eine kooperative Sicherheitspolitik gelegt werden, die einerseits deutlich macht, dass die Zeiten des Kalten Krieges endgültig vorbei sind, und die andererseits einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegenwirkt.
Die Planungen, sich unter dem Deckmantel zivilmilitärischer Zusammenarbeit eigene zivile Fähigkeiten für internationale Einsätze zulegen zu wollen, lassen jedoch befürchten, dass sich die NATO in Konkurrenz zu den Vereinten Nationen entwickeln will. Dass aber die Vereinten Nationen und nicht die NATO das globale Forum für Frieden und Sicherheit sein müssen, steht für mich außer Frage.
Auch eine Entgrenzung militärischer Aufgaben unter Berufung auf einen falsch verstandenen erweiterten Sicherheitsbegriff ist abzulehnen.: Cybersecurity oder Ressourcensicherheit sind aus meiner Sicht keine Aufgaben für Bundeswehr oder NATO. Hier sind keine militärischen Lösungen gefragt.
Wenn die NATO ihren eigenen Anspruch als Sicherheitsallianz für den Frieden erfüllen will, muss sie vielmehr ihren Beitrag für die weltweite Abrüstung im nuklearen wie im konventionellen Bereich leisten. Die konventionelle und nukleare Überlegenheit der USA und der NATO verpflichten diese, die Sicherheitsbedürfnisse anderer Akteure zu berücksichtigen und bestehendes Misstrauen und Ängste ernst zu nehmen und abzubauen. Nur durch konsequente und umfassende Abrüstung und Rüstungskontrolle kann das für einen nachhaltigen internationalen Frieden nötige Vertrauen geschaffen werden.
Vor diesem Hintergrund ist es enttäuschend, dass die NATO den nuklearen Status Quo offenbar beibehalten will, obwohl sich die Chancen auf die Verwirklichung einer Welt frei von Atomwaffen seit dem entsprechenden Bekenntnis von US-Präsident Obama deutlich verbessert haben. Statt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf Atomwaffen zu beharren, hätte die NATO in ihrem neuen strategischen Konzept die Rolle von Atomwaffen reduzieren und konkrete Schritte zur atomaren Abrüstung vornehmen müssen. Dies hätte auch bedeutet, sich für den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland, die Entnuklearisierung der NATO-Strategie und eine Nuklearwaffenkonvention einzusetzen.
Gleichzeitig darf eine konsequente Umsetzung nuklearer Abrüstungsmaßnahmen nicht durch Aufrüstungsmaßnahmen im konventionellen Bereich konterkariert werden. Als mächtigstes Militärbündnis der Welt kann und muss die NATO nuklear und konventionell abrüsten. Darin besteht für mich überhaupt kein Zweifel.
Der Plan zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems der NATO, der leider ebenfalls im neuen strategische Konzept enthalten ist, birgt große technische, finanzielle und vor allem friedens- und sicherheitspolitische Risiken. Vor allem beschwört er die Gefahr einer weltweiten Rüstungs- und Proliferationsspirale herauf, insbesondere in einer Zeit, in der die globale Machtverteilung durch aufstrebende Mächte neu bestimmt wird. Unklar ist auch, auf welche Bedrohung eigentlich mit dem Raketenabwehrsystem reagiert werden soll. In einer hochgerüsteten Welt vermittelt ein bündnisbeschränktes Raketenabwehrsystem ein falsches Gefühl von Sicherheit und täuscht über die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle hinweg.
Ich hoffe, dass in meinen Ausführungen für Sie deutlich geworden ist, dass ich – gerade in Anbetracht des grünen Werdegangs – ein wichtiges Anliegen darin sehe, die NATO (sicherheits-)politisch neu zu definieren und eine aktive und kritische Begleitung dafür als wichtig erachte.
Mit freundlichen Grüßen
Agnieszka Malczak