Einfluss hinter verschlossenen Türen

Wie Lobbyist:innen versuchten, den Koalitionsvertrag mitzuschreiben

Vier Wochen lang rangen Politiker:innen von Union und SPD um einen Koalitionsvertrag – und mit ihnen ein Heer von Lobbyist:innen. Ein Rüstungskonzern lieferte fertige Textbausteine. Ein Interessenvertreter bat darum, vertrauliche Unterlagen ‚versehentlich‘ im Kopierer liegen zu lassen.

von Martin Reyher, Lisa Wölfl und Tania Röttger, 10.04.2025

Als es vollbracht ist, stehen die Parteichef:innen von CDU, CSU und SPD zufrieden vor der Hauptstadtpresse und präsentieren ihr Werk: 146 Seiten dick – Überschrift: "Verantwortung für Deutschland". Habemus Koalitionsvertrag.

Weitgehend geräuschlos hatten Unterhändler:innen in den Wochen nach der Bundestagswahl am 23. Februar die Leitlinien der künftigen Regierungspolitik ausgehandelt und zu Papier gebracht. 

Nicht weniger geräuschlos war eine andere Gruppe, die diese Inhalte in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchte: Lobbyist:innen von Unternehmen, Verbänden und Initiativen.

Wie genau sind sie dabei vorgegangen? abgeordnetenwatch.de hat in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Beteiligten gesprochen oder von ihnen schriftliche Schilderungen eingeholt. Etliche Politiker:innen und Lobbyist:innen wollten sich nur äußern, wenn ihre Namen nicht genannt werden. 

Im Zuge der Recherche wird ein internes Lobbypapier ans Licht kommen, das offenkundig nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Ein Abgeordneter wird von der dreisten Bitte eines Lobbyisten erzählen und ein kaum beachtetes Schlupfloch im Gesetz wird sichtbar werden.

Juso-Chef Philipp Türmer
Nach weniger als 40 Minuten die erste Lobbymail: Juso-Chef Philipp Türmer verhandelte für die SPD in der Arbeitsgruppe Digitales und wurde von Interessenvertreter:innen belagert.

Der Startschuss

Mitte März geben Union und SPD ihre Verhandlungsteams bekannt. Bei den Sozialdemokraten ist es der 12. März, ein Mittwoch. Am nächsten Tag sollen die Koalitionsgespräche beginnen.

Um Punkt 11 Uhr verschickt die Pressestelle eine Mitteilung mit dem Betreff "Zuständigkeiten der SPD-Arbeitsgruppen für die Koalitionsverhandlungen". Die E-Mail enthält die Namen von 114 Politiker:innen, die in den kommenden Wochen mit der Union über einen Koalitionsvertrag verhandeln werden. 

Es ist das Signal, auf das viele Lobbyist:innen gewartet haben.

Keine 40 Minuten später meldet sich bei Philipp Türmer, dem Juso-Chef und SPD-Verhandler, der erste Interessenvertreter. Er arbeitet für das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen und kommt direkt zur Sache: Die kommenden Tage und Wochen seien "entscheidend für die Zukunft der deutschen Verkehrspolitik". Deshalb liefert er dem SPD-Mann gleich seine Wünsche für den “Koalitionsvertrag und die Bundesregierung" mit.

Nicht nur Türmer wird von Lobbyist:innen belagert. “Den ganzen Tag über standen die Telefone nicht mehr still”, berichtet ein Abgeordneter. Normalerweise bemühe er sich, jede Nachricht zu beantworten – aber diesmal? "Wir haben fast alles konsequent ignoriert."

Was jetzt in den Vertrag kommt, hat gute Chancen

So beginnt das Ringen um Einfluss auf die künftige Regierungspolitik von Union und SPD. 

Wie nach jeder Wahl geht es bei den Koalitionsverhandlungen um die großen Linien für die nächsten vier Jahre. Was jetzt den Weg in den Vertrag findet, hat gute Chancen, umgesetzt zu werden.

Doch diesmal ist es anders als in der Vergangenheit.

Parteispitzen von CDU, CSU und SPD vor Koalitionsverhandlungen
Nichts soll nach außen dringen: Die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD haben ihre Verhandlungsteams zu striktem Stillschweigen verpflichtet. Für Lobbyist:innen wurde das zum Problem.

“So dicht gehalten haben die Arbeitskreise bisher noch nie”, sagt der Cheflobbyist eines großen Wirtschaftsverbandes, der seit mehr als zwei Jahrzehnten im Geschäft ist. 

Die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD haben ihre Teams zu striktem Stillschweigen verpflichtet. "Keine Kommunikation von Zwischenergebnissen, keine Selfies etc.", heißt es in einer internen "Handreichung zu den Koalitionsverhandlungen 2025", die bald öffentlich wird. Die Sorge ist groß, dass Interna nach außen dringen und zerredet werden. Besonders für die Union und Friedrich Merz wäre das Scheitern der Verhandlungen fatal – ein anderer realistischer Koalitionspartner als die SPD existiert nicht.

"Das ist doch Wahnsinn", sagt selbst ein erfahrener Lobbyist

Für Lobbyist:innen bedeutet das Abschotten, dass ihnen die vorher vertrauten Zugänge nun versperrt bleiben. Viele reagieren mit Quantität statt Qualität – und fluten die Unterhändler:innen mit Mails. 

“Das war ein wahlloses Draufspringen”, berichtet eine Abgeordnete. Ein Verband schickt den SPD-Verhandler:innen sogar Glückwünsche zum "Wahlerfolg" – dabei hatte die Partei ihr historisch schlechtestes Ergebnis erzielt. Der SPD-Politiker Sebastian Roloff, Mitglied der Arbeitsgruppe "Wirtschaft, Industrie, Tourismus", zeigt sich irritiert, wie "wenig zielgerichtet" die Interessenvertreter:innen vorgegangen seien.

Selbst erfahrene Lobbyisten schütteln den Kopf. "Das ist doch Wahnsinn", sagt einer aus einem mittelständischen Industrieverband zu den massenhaften Lobbymails. „Man muss die Leute vorher kennen.“

Und wenn der direkte Draht fehlt? Ein Abgeordneter aus der Arbeitsgruppe Gesundheit erzählt von einem mächtigen Lobbyverband, der besonders aggressiv aufgetreten sei. Der Cheflobbyist habe bei mehreren Fraktionskolleg:innen angerufen und versucht, über diese seine Wünsche an ihn heranzutragen.

Mit der Union gegen ein Werbeverbot

Türschild des Deutschen Brauer-Bundes
Gemeinsam mit CDU/CSU und konservativen SPD-Abgeordneten gegen ein Werbeverbot: Nach den Koalitionsverhandlungen kann der Deutsche Brauer-Bund aufatmen. Im Vertrag findet sich kein Wort zu einem Verbot.

Wie gut manche Interessenvertreter:innen vernetzt sind, lässt sich in einem Brief des Deutschen Brauer-Bundes an die Verhandler:innen von CDU und CSU nachvollziehen.

Demnach hatte der Brauerei-Lobby in Erfahrung gebracht, dass "ein von der SPD in die Arbeitsgruppe Familie eingebrachtes Werbeverbot für alkoholhaltige Getränke" diskutiert werde. Die Union, so der Appell in dem im Lobbyregister veröffentlichten Schreiben, müsse sich nun in den laufenden Koalitionsgesprächen "weiterhin gegen neue Werbeverbote" einsetzen.

Auch SPD-Abgeordnete vom konservativen "Seeheimer Kreis" werden von der Lobbygruppe angeschrieben. Die "Seeheimer" hätten sich in der Vergangenheit immer wieder skeptisch gegenüber neuen Werbebeschränkungen gezeigt – dies möge bitte so bleiben. 

Am Ende ist die Lobby-Offensive erfolgreich: Im Koalitionsvertrag findet sich kein Wort zu einem Werbeverbot.


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Viele der befragten Politiker:innen und Lobbyist:innen glauben jedoch, dass der direkte Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen überschätzt wird. "Es bringt nichts, in den Verhandlungen noch etwas einzubringen", sagt etwa ein erfahrener Lobbyist eines Mittelstandsverbandes. “Dann ist alles gegessen." Das bestätigt auch eine hochrangige Verhandlerin der Union: "Offene Fragen wurden schon vorher geklärt." 

Das massenhafte Verschicken von Mails an die Verhandler:innen scheint für Interessengruppen vor allem eine Pflichtübung zu sein. Es gehe eher darum, den eigenen Mitgliedern etwas vorweisen zu können als um tatsächlichen Einfluss, sagt ein Verbandslobbyist. Auch Politiker:innen nehmen die Lobbyschreiben während der Koalitionsverhandlungen eher als Ritual wahr – die vertretenen Positionen seien hinlänglich bekannt.

Lobbyarbeit mit Vorlauf

Tatsächlich liegt die entscheidende Phase für die Interessenvertreter:innen schon Monate früher.

Ende 2024 erhielt die Lobby- und PR-Agentur Bernstein einen Auftrag vom Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung (WSM). Die Agentur sollte sich um die "Begleitung Wahlprogramm und Koalitionsverhandlungen" kümmern, wie im Lobbyregister nachzulesen ist

16 Interessenvertreter:innen setzt Bernstein nach eigenen Angaben für dieses Mandat ein. Vier von ihnen haben früher für Bundestagsabgeordnete gearbeitet, davon einer als Büroleiter. 

Laut Agenturchef Timm Bopp wurden im Auftrag des Verbandes mehrere "Handlungsempfehlungen" an ausgewählte Abgeordnete und deren Büros verschickt. Der dreiseitige Forderungskatalog trägt das Datum Oktober 2024 – der Monat, in dem die tief zerstrittene Ampelkoalition kurz vor dem Aus stand und vorgezogene Neuwahlen immer wahrscheinlicher wurden.

WSM-Hauptgeschäftsführer Christian Vietmeyer zeigt sich zufrieden, als abgeordnetenwatch.de ihn während der Koalitionsgespräche um eine Einschätzung bittet: "Unsere Themen sind offensichtlich Gegenstand der Verhandlungen", sagt er. Vieles sei auch schon in den Wahlprogrammen aufgegriffen worden, etwa der Bürokratieabbau.

"Whatever it takes" für die Rüstungsindustrie

Eine Branche konnte sich schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen als Gewinnerin fühlen: die Rüstungsindustrie. Union und SPD wollen Milliarden für die Landesverteidigung locker machen, daran lassen die Koalitionspartner keinen Zweifel. CDU-Chef Friedrich Merz formulierte es unmissverständlich: Seine Regierung werde ausgeben, was auch immer notwendig ist – "whatever it takes".

Rolls-Royce-Website
Rolls-Royce macht mit seiner Rüstungssparte Milliardenumsätze. Bei den Koalitionsverhandlungen mischte der Konzern mit: Mit einem Formulierungsvorschlag, den die Politiker:innen eins zu eins hätten übernehmen können.

Auf ihre Lobbyarbeit während der Verhandlungen angesprochen, reagieren die großen Rüstungskonzerne einsilbig – oder gar nicht. Rheinmetall teilt mit: "Wir bitten um Verständnis, dass wir tagespolitische Diskussionen nicht kommentieren." Heckler & Koch schweigt komplett.

Wenn es um die Verteidigungs-Milliarden geht, will auch Rolls-Royce etwas vom Kuchen abhaben. Der britische Luft- und Raumfahrtkonzern hat eine florierende Rüstungssparte und produziert u.a. Motoren für Panzer und Kampfjets. Aus Verhandlungskreisen ist zu hören, dass Rolls-Royce an Mitglieder der Arbeitsgruppen mit konkreten Textvorschlägen für den Koalitionsvertrag herangetreten ist. 

Als abgeordnetenwatch.de das Unternehmen um eine Stellungnahme bittet, passiert wenig später etwas Unerwartetes. 

Copy-and-Paste für den Koalitionsvertrag

Am 3. April, gut eine Woche nach der Anfrage, ergänzt Rolls-Royce seinen Eintrag im Lobbyregister um einen neuen Punkt: "Beitrag zu Regierungsverhandlungen". Hochgeladen wird ein Dokument, das normalerweise nicht an die Öffentlichkeit gelangt: "Textvorschläge für einen Koalitionsvertrag 2025" steht über dem zweiseitigen PDF. Was fehlt: ein Firmenlogo.

Die Rolls-Royce-Lobbyist:innen haben die Textbausteine aus der Perspektive von Union und SPD formuliert – in der "Wir"-Form. "Wir", die Koalition. Zum Thema "Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und wehrtechnischen Industrie" heißt es zum Beispiel: "Bei der Entwicklung, Beschaffung und Betreuung sicherheitsrelevanter Systeme bevorzugen wir nationale und europäische Lösungen." An anderer Stelle lautet die Textvorlage: "Wir [verfolgen] eine aktive Rüstungsexportpolitik, indem wir Exportbestrebungen deutscher und europäischer Akteure auch international wertschätzend zur Seite stehen."

Wenn es nach Rolls-Royce geht, brauchen die Verhandler:innen die Sätze eigentlich nur noch per Copy-and-Paste in den Koalitionsvertrag einfügen. 

Formulierungshilfe von Rolls-Royce für die Koalitionsverhandlungen
Lobbydokument ohne Firmenlogo: Rolls-Royce schickte den Verhandler:innen "Textvorschläge für einen Koalitionsvertrag 2025". Die Vorlage war so formuliert, dass sie eins zu eins in den Koalitionsvertrag hätte übernommen werden können.

Ein Konzernsprecher erklärt, man halte sich an alle Vorgaben. Ob Rolls-Royce auch früher schon Textvorschläge an die Politik geschickt hat, lässt er offen.

Auch andere agieren mit Chuzpe. Ein SPD-Verhandler erzählt davon, dass ihn ein Lobbyist um einen ungewöhnlichen Gefallen gebeten habe: Ob er nicht mal was im Kopierer "vergessen" könne. Die Hoffnung auf exklusive Informationen aus den Koalitionsverhandlungen war allerdings vergeblich: Der Abgeordnete packte seine Unterlagen stets ein.

Lobbyist am Verhandlungstisch

Über den Einfluss von Lobbyist:innen auf die künftige Bundesregierung wurde schon diskutiert, da war noch gar nicht gewählt. Im November 2024 schlug Markus Söder den Präsidenten des Bayerischen Bauernverbandes, Günther Felßner, als Bundeslandwirtschaftsminister vor.

Prompt regte sich Protest: Mit Felßner werde ein Lobbyist ins Kabinett einziehen, warnten Umwelt- und Verbraucherschützer:innen. Das Umweltinstitut München startete eine Petition gegen den "ranghöchsten Lobbyisten der Agrarindustrie". 

Als Union und SPD in den vergangenen Wochen über die künftige Agrarpolitik verhandelten, saß Felßner für die CSU mit am Tisch.

Günther Felßner, Präsident des Bayerischen Bauernverbandes
"Ranghöchster Lobbyist der Agrarindustrie" für die einen – ein geeigneter Landwirtschaftsminister für Markus Söder: Der umstrittene Präsident des Bayerischen Bauernverbandes, Günther Felßner, nahm für die CSU an den Koalitionsverhandlungen teil (hier im Januar 2024 bei einer Protestveranstaltung gegen Sparpläne der Ampelkoalition)

Was genau der Bauernfunktionär dort eingebracht hat, bleibt unklar. Der Deutsche Bauernverband, Dachorganisation von 18 Landesverbänden, gibt sich auf Anfrage ahnungslos. Man habe "keinen Zugriff" auf die Gespräche, sagt ein Sprecher. "Die Verhandler halten die Diskussionen offensichtlich intern." Schwer zu glauben: CSU-Verhandler Felßner ist Vizepräsident des Verbandes.

Schlupfloch im Gesetz

Eigentlich soll das Lobbyregister für Transparenz sorgen. Seit 2022 gilt: Wer auf Bundestagsabgeordnete oder die Bundesregierung Einfluss nehmen will – direkt oder indirekt – muss sich dort eintragen. Seit 2024 müssen sogar konkrete Lobbyziele angegeben und Forderungspapiere hochgeladen werden.

Bei der Einflussnahme auf die Regierungsbildung ist davon allerdings wenig zu sehen. Der Begriff "Koalitionsverhandlung" taucht im gesamten Register gerade einmal 27 Mal auf, meist bei kleineren Initiativen wie dem Aktionsbündnis gegen AIDS oder wenig bekannten Mittelstandsverbänden. 

Von den großen Lobby-Akteuren fehlt fast jede Spur – mit wenigen Ausnahmen wie dem Fahrzeughersteller MAN. Einer der Gründe: Viele haben ihre Forderungen schon vor Langem ins Register eingetragen und während der Koalitionsverhandlungen erneut vorgebracht.

Doch es könnte noch einen weiteren Grund für die spärlichen Einträge geben: ein Schlupfloch im Gesetz.

Lobbyist:innen, die mit ihrer Einflussnahme auf die Koalitionsverhandlungen unentdeckt bleiben wollten, mussten ihre Forderungen lediglich an jene Verhandler:innen richten, die weder ein Bundestagsmandat noch ein Regierungsamt innehatten. Und davon gab es nicht wenige. Für Union und SPD saßen etwa Ministerpräsidenten wie Markus Söder (CSU), Michael Kretschmer (CDU), Manuela Schwesig und Anke Rehlinger (beide SPD) mit am Verhandlungstisch. Außerdem beteiligt: Landesminister:innen, Abgeordnete aus Landtagen, dem Europaparlament sowie Parteifunktionär:innen.

Wer diesen Personen seine Forderungen zusteckte, muss das Papier nicht im Lobbyregister hochladen.

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