Frage an Wolfgang Thierse von Oliver S. bezüglich Kultur
Wie stehen Sie persönlich und in Ihrer Position als Bundestagspräsident zu weiteren Denkmalen für die Opfer Deutscher Diktaturen?
Als Befürworter des Holocaustdenkmals traten Sie ja energisch für das verwirklichte Denkmal ein. Was ist jedoch mit den "vergessenen " Opfern, welche nicht, oder nur durch "unwürdige" bzw. schwer erreichbare Einrichtungen gewürdigt werden.
Ich meine hiermit:
- Eunthanasieopfer
Diese rostige Wand vor der Philharmonie inmitten einer Bushaltestelle ist ein Schandfleck, auch wenn Sie zentral gelegen ist.
- zu Unrecht Inhaftierte
Welche als Arbeitsscheu (ASR/AS) und Assozial verfolgt wurden, was häufig willkürlich erfolgte. Diesen Opfer wurden nach 1945 weder in Ost noch West genügend gedacht, weil es ja weiterhin gesellschaftlicher Konsens war, das diese Bevölkerungsgruppe vom Staat mit Repressionen und Verfolgung drangsaliert wurde.
- Kriminelle
Ist es nicht Zeit, vom Zerrbild der "grünen" kriminellen Kapos abzukommen, und einzugestehen, das auch diesen Menschen Unrecht wiederfuhr, wenn Sie nach dem Strafvollzug in den Konzentrationslagern interniert wurden? Da dies gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze verstößt, sind auch diese Menschen Opfer.
Die anderene Opfergruppen wie Roma, Homosexuelle oder Deserteure haben ja eine Lobby aus Überlebenden, Betroffenen und Familienangehörigen. Die o.g. Gruppen jedoch nicht, da Sie ja willkürlich definiert wurden.
Ist es dann nicht Sache der Politik solch gesellschaftliches Gedenken zu verwirklichen? Es kann ja nicht sein, das es einer nervigen TV-Moderatorin bedarf, um in Berlin ALLEN Opfern gleichwertig zu gedenken.
MfG Oliver Simon
Sehr geehrter Herr Simon,
die Frage des würdigen Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus ist für alle Deutschen, die durch ihre Kenntnis von den grausamen Verbrechen und ihren unschuldigen Opfern, eine solch große Verantwortung, dass sie keine Frage der Parteizugehörigkeit, der einen oder der anderen politischen Richtung sein kann. Sie ist auch keine Frage des Amtes, das man bekleidet.
Das würdige Gedenken aller Opfer ist mir ein wichtiges Anliegen. Ich möchte auf meine Rede „Wegschauen, ignorieren, schweigen, all das dürfen wir nicht tun!“ verweisen, die ich anlässlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 60. Jahrestag der Befreiung der Menschen im Konzentrationslager Auschwitz, vor dem Plenum des Deutschen Bundestages gehalten habe. Dort sagte ich:
„Wir gedenken heute aller Opfer des Nationalsozialismus: Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Opfer der Militärgerichtsbarkeit, Behinderte, Opfer der Euthanasie, Kriegsgefangene, politische Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Frauen und Männer des Widerstandes und alle anderen, die während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gequält und ermordet wurden. Die Reihenfolge dieser Aufzählung stellte keine Wertung dar. Jedes Opfer hat das gleiche Recht auf Anerkennung und Würdigung. Unser Gedenken gilt allen, die unermessliches Leid erlitten, denen die Würde genommen wurde, die ihr Leben verloren. Und es gilt allen, die - auch wenn sie die infernalische Todesmaschinerie überlebt haben - doch an ihr zerbrochen sind: an dem zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an die Menschlichkeit, an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschehen ist.“ Konkrete Aktivitäten zur Würdigung aller Opfer des Bundes werden sowohl im Bundestag als auch durch die Bundesregierung vorangetrieben. So sieht einerseits das Gedenkstätten-förderungskonzept des Bundes beispielsweise auch die Förderung von Gedenkstätten zur Ehrung von Aktivisten des Widerstands gegen das NS-Unrechtsregime sowie die Würdigung aller durch den NS-Terror zu Opfern gewordenen vor. Insgesamt hält dieses Konzept Mittel für alle Gedenkstätten bereit, die die im Konzept genannten Vorraussetzungen erfüllen. Die Arbeit der Gedenkstätten, Museen und von zahlreichen Erinnerungsorten ist darauf gerichtet, allen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft würdig zu gedenken.
Dabei entstehen auch neue Orte, wie die des vom Deutschen Bundestag beschlossenen Denkmals für die ermordeten Juden Europas oder die verfolgten Homosexuellen. Auch wird der Bund erstmals mit einer großen Ausstellung der Opfer der Wehrmachtsjustiz ein würdiges Gedenken ermöglichen, eine Gruppe die bisher kaum öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat.
Die Würdigung sämtlicher Opfer des Nationalsozialismus liegt in unser aller Verantwortung. Ich werde mich auch in Zukunft für einen ehrenvollen Umgang mit dem Gedenken aller Opfer einsetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Thierse