Frage an Wolfgang Thierse von daniel r. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Thierse.
Seit über 20 Jahren wird die Notwendigkeit der Senkung der Lohnnebenkosten von allen Seiten behauptet. Weshalb sträubt sich die SPD gegen die Systematik der Umfinanzierung vom Sozialversicherungssystem hin zum Steuersystem zur Sicherung allgemeingesellschaftlicher Aufgaben? Die sog. Ökosteuer ist in diesem Sinne nichts anderes als eine differenzierte Art der Mehrwertsteuer, die die CDU jetzt auf UNTERES europäisches Maß zu erhöhen gedenkt. Sind nicht die eher steuerfinanzierten Staaten in den vergangenen 20 Jahren die tendenziell wirtschaftlich erfolgreicheren?
MfG D.R.
Sehr geehrter Herr Röttger,
das in Deutschland bestehende Sozialversicherungssystem hat eine lange Tradition. Seine ersten Bausteine, die Krankenversicherung (eingeführt 1883) und die Unfallversicherung (eingeführt 1884), gehen auf die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zurück. Mit dem bismarckschen Modell der sozialen Sicherung und seinem grundlegenden Prinzip der Solidarität hatten wir stets eine verlässliche und wandlungsfähige Grundlage für die Befriedigung des allgemeinen Bedürfnisses nach sozialer Sicherheit. Heute befinden wir uns in einer Situation, in der wir vor allem aufgrund der demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft gezwungen sind, die Konstruktion unseres sozialen Sicherungssystems neu zu überdenken und wiederum den Gegebenheiten und Erfordernissen anzupassen, um es für künftige Generationen erhalten zu können.
Eine generelle Hinwendung zu einer durch Steuermittel finanzierten sozialen Sicherung bietet jedoch nicht per se eine Perspektive für ein höheres Maß an Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit in unserem Land. Sinkende Steuersätze oder sinkende Steuereinnahmen in wirtschaftliche Krisenzeiten wirken sich in einem solchen System sehr viel stärker und unmittelbar auf die Leistungsfähigkeit der steuerfinanzierten Sicherungssysteme aus. Wenn die Steuereinnahmen des Staates zurückgehen, gleichzeitig aber aufgrund wirtschaftlich schwieriger Verhältnisse erheblich mehr Sozialleistungen finanziert werden müssen, werden Fragen der Gesundheitsversorgung, der gesetzlichen Unfallversicherung, der Versorgung Pflegebedürftiger usw. zur Sache des Bundesfinanzministers und des Haushaltsausschusses. Der Gesetzgeber müsste jährlich neu festlegen, wie viel Geld er für den „Sozialausgleich“ beispielsweise in der Gesundheitsversorgung ausgeben will. Mögliche Leistungskürzungen bekämen die Bedürftigen schnell zu spüren.
Da die öffentlichen Haushalte ohnehin bereits stark unter Druck stehen, bietet ein in wirtschaftlichen Krisenzeiten enorm anfälliges steuerfinanziertes Sicherungssystem keine langfristige und stabile Grundlage für eine Gesellschaft, in der Solidarität und soziale Sicherheit den Zusammenhalt aller und würdevolles Leben Einzelner ermöglichen sollen. Vielmehr bietet uns die Modernisierung unseres an sich bewährten, korporativen Systems sozialer Sicherung die Chance, diese Werte auch langfristig (und nicht im Jahresturnus) zu verwirklichen, da solche Systeme weitgehend außerhalb der staatliche Haushalte stehen und von der Solidargemeinschaft selbst getragen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Wolfgang Thierse