Frage an Werner Kuhn von Gerd B. bezüglich Recht
Hallo Herr Werner Kuhn,
geht Ihr Vertrauen in Ihre Wähler so weit, dass Sie sich für die Einführung des bundesweiten und regionalen Volksentscheides
und für das Recht der Bürger einsetzen werden, für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit eigenverantwortlich zu entscheiden ?
Liebe Grüße
Gerd Blohm
6.8.2005
Sehr geehrter Herr Blohm,
ich danke Ihnen für Ihre Frage vom 6. August 2005. Was den ersten Teil Ihrer Frage betrifft, vertrete ich folgende Position:
Es ist ein Irrtum, zu glauben, bei Volksabstimmungen hätte der Einzelne mehr Einfluss. Tatsächlich würde die Bedeutung von Verbänden und Interessengruppen, die große Kampagnen organisieren können, wachsen.
Engagierte Minderheiten erhielten großen Einfluss auf die Staatsgeschicke - ohne dafür dauerhaft in der Verantwortung zu stehen.
Eine Volksabstimmung bedeutet, auch hoch komplizierte Sachverhalte auf ein JA oder Nein reduzieren zu müssen. Demgegenüber ist die Entscheidungsfindung im politisch-parlamentarischen Prozess auf möglichst gerechten Interessenausgleich, auf Suche nach richtigen Kompromissen ausgerichtet. Volksentscheide kennen keine Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und keine Beteiligung der Länder. Im Gegenteil. Wenn im Bund auf der Basis von Volksabstimmungen entschieden würde, würde der Föderalismus enden. Gegen das Verfassungsgebot, dass die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken, würde offensichtlich verstoßen.
Das Grundgesetz hat sich nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik für eine strikt repräsentative Demokratie entschieden und bis auf die Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29) Volksabstimmungselementen eine Absage erteilt. Wenn es in Art. 20 Abs. 2 GG heißt, die Staatsgewalt werde vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, dann räumt das GG den Ländern damit durchaus die Option ein, für ihren Bereich und den der Kommunen Volksabstimmungen durchzuführen.
"Bonn ist nicht Weimar" und Berlin auch nicht. Dennoch sprechen auch heute noch gravierende Gründe gegen eine Aufnahme von Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheiden in das GG.
1. Die Komplexität einer Gesetzgebungsmaterie und ihre Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen lassen in einer modernen pluralistischen Demokratie eine Ja/Nein- Alternative nicht zu. Gefordert ist ein Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren, das auf ein hohes Maß an Kompromisssuche und Kompromissfindung angelegt ist. Dafür ist das parlamentarische Verfahren mit seinen drei Lesungen und den Ausschussberatungen am besten geeignet.
2. Demagogie und Populismus wären bei einer Volksabstimmung Tür und Tor geöffnet. Die Entrationalisierung bewirkt auch, dass sachfremde Erwägungen in den Entscheidungsprozess einfließen oder gar den Ton angeben. Es geht dann nicht um das Gesetzgebungsvorhaben als solches, sondern darum, die Regierung oder die Opposition allgemeinpolitisch "abzuwatschen".
Volksabstimmungen sind sehr stark momentanen Stimmungen unterworfen. Würde heute ein Kinderschänder einen grausamen Mord verüben, würde die Zustimmung zur Einführung der Todesstrafe sprunghaft ansteigen, nach ein, zwei Monaten aber wieder abnehmen, da der unmittelbare emotionale Eindruck des Ereignisses verflogen ist.
3. Der Minderheitenschutz wäre gefährdet, da weder die Gruppen, die für die "richtige" Entscheidung werben, noch die Stimmbürger dem Gemeinwohl verpflichtet sind.
4. Volksabstimmungen geben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht noch stärker als bisher auf Bundesebene durchzusetzen. Die Bürger könnten angesichts der erforderlichen Quoren ihre Initiativen in aller Regel nicht selbst vorantreiben, sondern wären auf die Unterstützung von Verbänden und Vereinigungen angewiesen. Infolgedessen besteht die Gefahr der Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen.
5. Volksabstimmungen zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Darin änderte sich auch nichts durch die Einführung eines Länderquorums. Dem Bundesrat, der nicht lediglich eine Summe der Länder, sondern eine selbständige Einheit innerhalb unseres Systems ist, wäre die Möglichkeit der Mitgestaltung genommen. Damit ginge die ausgewogene Balance zwischen zentral- und gliedstaatlichen Entscheidungsbefugnissen in der Bundesgesetzgebung, vermittelt durch das Miteinander von Bundestag und Bundesrat, verloren.
6. Es ist illusionär zu erwarten, dass die Einführung von Volksabstimmungen die sog. "Parteienverdrossenheit" überwinden könnte. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Denn wenn Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit in das Grundgesetz aufgenommen würden, so würden sich - legitimerweise - auch die politischen Parteien dieser Verfahren bedienen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Durchführung solcher Verfahren in aller Regel ihrer Organisation und Initiierung bedarf. Wenn die politischen Parteien aber die freie Entscheidung darüber hätten, ob sie ein bestimmtes Anliegen auf volksabstimmendem oder parlamentarischem Wege verfolgen wollten, drohte erneut die Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung. Darüber hinaus wüchse die Macht der politischen Parteien gegenüber dem heutigen Rechtszustand noch dadurch, dass ihnen neben ihren parlamentarischen Entfaltungsmöglichkeiten auch die Wege zur Anrufung wie die Organisation von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid eröffnet würden. Zudem trügen Volksabstimmungverfahren zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments bei. Wegen des Anscheins einer "höheren Legitimität des unmittelbaren Volksgesetzes" gegenüber dem "nur mittelbaren Parlamentsgesetz" könnte eine Entwicklung dahingehend eintreten, das Parlament nur noch in weniger wichtigen Fragen entscheiden zu lassen. Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Parlaments könnten auch dadurch beeinträchtigt werden, dass in schwierigen, politisch sensiblen Fragen Volksabstimmungen den parlamentarischen Entscheidungsträgern die Flucht aus der Verantwortung ermöglichten.
7. Die Einführung volksabstimmender Elemente würde das parlamentarische Regierungssystem nicht ergänzen, sondern grundlegend verändern. Denn das ausbalancierte Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander müsste neu justiert werden. Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und auch das Bundesverfassungsgericht erleiden eine Einbuße ihrer Befugnisse, die anderweitig irgendwie kompensiert werden müsste. Bisher bildet die Bundestagsmehrheit zusammen mit der Bundesregierung eine "Staatsleitung zur gesamten Hand" (Ernst Friesenhahn). Ein Großteil der Gesetzesinitiativen geht von der Bundesregierung aus. Nicht nur der Bundestag, sondern auch die Bundesregierung verlören rapide an Einfluss und politischer Gestaltungskraft. Das gleiche gilt für den Bundesrat. Das Bundesverfassungsgericht wird sich ungleich schwerer tun, ein vom Volk beschlossenes Gesetz aufzuheben, als wenn es vom Parlament verabschiedet worden ist.
In der Vergangenheit ist die Einführung volksabstimmender Elemente häufig im Zusammenhang mit einer Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages auf 5 Jahre geführt worden. Doch wäre dies keine adäquate Kompensation seines Kompetenzverlustes. Ob der Bundestag 4 oder 5 Jahre weniger zu sagen hat, macht keinen substanziellen Unterschied.
8, Diese Grundsätze gelten auch für eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung.
Hier wird besonders deutlich, welche delegitimierende und keinesfalls identitätsstiftende Wirkung eine Volksabstimmung haben könnte. Ist das Abstimmungsquorum gerade erreicht und spricht sich dann von den Abstimmenden eine knappe Mehrheit für die Annahme der Verfassung aus, wäre dies ein ziemlich desaströses Ergebnis. Jedenfalls hat die Wahlbeteiligung bei Europawahlen in Deutschland und im EU-Durchschnitt stetig abgenommen. 1979 lag sie in Deutschland noch bei 65,7 %, 2004 nur bei 43 %.
9. Für eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung müsste zunächst auf jeden Fall das Grundgesetz geändert werden. Art. 146 - Verfassungsablösung mit einfacher Mehrheit - gilt nicht, weil das Grundgesetz ja in Kraft bleibt.
Würden nun aber Bundestag und Bundesrat den Volksentscheid über die "europäische Verfassung" zulassen, dann ließe sich die (auch) im Wendejahr 1989/90 erhobene Forderung nach einer Volksabstimmung über das Grundgesetz selbst schwerlich zurückweisen. Sollte das Grundgesetz als für eine Volksabstimmung unzugänglich erklärt werden, dann enthielte dies die Aussage, dass die europäische Verfassung dem Grundgesetz gegenüber nachrangig sei: Das volksabstimmende Verfügungsrecht über die EU-Verfassung leitete sich aus dem Grundgesetz ab, über das jedoch kein volksabstimmendes Verfügungsrecht besteht.
Um den zweiten Teil Ihrer Frage beantworten zu können, müssten Sie diesen konkretisieren. Mir ist leider nicht klar, was genau mit diesem Frageteil gemeint ist.
Mit freundlichen Grüßen
Werner Kuhn