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Volker Wissing
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Frage von Ingrid W. •

Frage an Volker Wissing von Ingrid W. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Dr. Wissing,

warum stimmt die FDP dem ESM und Fiskalpakt zu?
Mit seinen weitreichenden Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten greift der ESM direkt in die staatliche Souveränität Deutschlands ein, beschränkt die Rechte des Parlaments entgegen der jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und legt die Entscheidungskompetenz in die Hände des sog. Gouverneursrats (= die Finanzminister der Euro-Gruppe oder andere für Finanzen zuständige Mitglieder der nationalen Regierungen, also die Exekutivgewalt).

Zudem ist die Organisation des ESM weder demokratisch legitimiert noch findet eine parlamentarische Kontrolle statt – im Gegenteil: Der ESM selbst und die verantwortlichen Akteure genießen eine umfassende und weitreichende Immunität vor jeglicher juristischer Verfolgung oder demokratischer Kontrolle. Die nach deutschem Demokratieverständnis unentbehrliche Gewaltenteilung wird damit aufgehoben.
Mit dem Fiskalpakt, dem zweiten Pfeiler der geplanten Maßnahmen, erhalten zudem EU-Institutionen weitgehende Kontrollmöglichkeiten auf die Haushalte der souveränen Mitgliedsstaaten, ohne dass deren Parlamente oder auch das EU-Parlament darauf Einfluss nehmen könnten. Die so genannte Budgethoheit des Parlaments (Legislative) – die oft als die ureigenste Macht demokratisch gewählter Volksvertreter bezeichnet wird – würde so an Institutionen der Regierungsgewalt (Exekutive) abgetreten.
Wollen Sie sehenden Auges Deutschland in den Abgrund führen? Alle gleich arm? Ist das Ihre Vorstellung von Europa? Meine nicht! Der Euro spaltet Europa mit seiner Schuldenpolitik immer mehr! Mit Ideologie allein schafft niemand ein einheitliches Europa! Erst alle Wirtschaften auf gleiche Höhe bringen, dann kann man evtl. über einen Euro nachdenken!!! Der deutsche Rechtsstaat basiert auf dem Prinzip der Gewaltenteilung oder?
Wo bleibt die Volksabstimmung?

MfG
Ingrid Wilczek

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Antwort von
FDP

Sehr geehrte Frau Wilczek,

vielen Dank für Ihre Frage vom 6. Juni 2012.

Der Europäische Stabilitätsmechanismus ist kein politisches Wunschprojekt, sondern eine aufgrund der Dynamik der Eurokrise notwendig gewordene Maßnahme. Auch wenn Ihre Sorgen von vielen Menschen geteilt werden, und ich diese auch verstehen kann, so bin ich doch der Meinung, dass die aus der Eurokrise erwachsenen Gefahren für unser Land, weitaus gravierender sind, als die Schaffung des ESM.

Ihre Auffassung, dass der ESM über keinerlei demokratische Legitimation verfügt, teile ich nicht. Dem Gouverneursrat des ESM gehören die Finanzminister der Euroländer an. Diese wiederum sind Repräsentanten ihrer jeweiligen demokratisch gewählten Regierungen.

Der ESM ist eine internationale Organisation. Die Immunität dieser Organisationen und ihrer Beschäftigten ist eine völkerrechtliche Gepflogenheit. Diese können Sie auch auf wikipedia ausführlich nachlesen:

"Die Jurisdiktionsimmunität beschränkt sich überwiegend auf solche Immunitäten, die erforderlich sind, um der Organisation die Wahrnehmung ihrer Funktionen zu ermöglichen. Es handelt sich um funktionelle Immunitäten. Handlungen der Bediensteten sind folglich nur dann geschützt, wenn sie offizieller Natur sind. Allerdings sind für die Spitze der Organisationen, also z. B. den Direktor bzw. Generalsekretär und die oberste Führungsriege, häufig weitergehende Immunitäten vorgesehen, die neben den offiziellen Handlungen auch private Handlungen der betreffenden Personen und ihrer engsten Familienmitglieder umfassen; diese Immunitäten entsprechen sodann den Immunitäten, die den Diplomaten im zwischenstaatlichen Verkehr zukommen."

http://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Organisation_%28V%C3%B6lkerrecht%29

Der ESM soll im Falle einer Spekulation gegen ein Euroland schnell und massiv reagieren können. Der bisherige Verlauf der Eurokrise hat deutlich gezeigt, dass ein zu spätes und zögerliches Handeln die Rettungsmaßnahmen deutlich verteuert. Wenn Sie die Feuerwehr rufen, dann wollen Sie auch, dass diese löscht und nicht erst, eine Kostenabwägung zwischen evtl. Löschwasser- und dem zu erwartenden Brandschäden macht. Wenn der ESM seiner Aufgabe als Feuerwehr gerecht werden soll, dann muss er schnell und konsequent handeln können.

Sie sollten nicht vergessen, dass Deutschland nicht nur zahlt, sondern selbst auch ein Schuldnerstaat ist. Jedes Jahr refinanziert Deutschland an den Finanzmärkten 300 Mrd. Euro alte Schulden durch neue Kredite, hinzu kommt eine Neuverschuldung in Höhe von ca. 40 Mrd. Euro. Sollte es uns durch die unkontrollierte Insolvenz von Staaten nicht möglich sein, diesen Betrag zu refinanzieren, dann wäre das auch für unseren Staat und unsere Gesellschaft ein enormer Stresstest. Bei einem Volumen des Bundeshaushaltes in Höhe von ca. 370 Mrd. Euro wäre es uns jedenfalls unmöglich, alle unsere Verbindlichkeiten zu tilgen und gleichzeitig den Sozialstaat aufrecht zu erhalten. Ganz davon abgesehen, dass eine Krise in unseren Nachbarländern auch unsere Wirtschaft hart treffen würde und unser Land geradewegs in eine Rezession führen würde.

Erst kürzlich warnte eine Gruppe führender europäischer Wirtschaftsforscher ausdrücklich vor einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone. „Das könnte eine Wirtschaftskrise auslösen, die womöglich zu einer tiefen internationalen Rezession führt“, hieß es in dem am Montag in Brüssel vorgestellten Bericht der CES-Ifo-Gruppe, einem Ableger des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Die politischen Folgen für die Europäische Union seien nicht absehbar. „Wir empfehlen den Eurostaaten und der Europäischen Zentralbank, sich aktiv für den Verbleib der krisengeplagten Länder (in der Währungsunion) einzusetzen“, rieten die acht Ökonomen.

Berechnungen der Commerzbank zufolge hat die letzte Finanzkrise infolge der Pleite der US-Bank Lehman Brothers Deutschland rund 237 Mrd. Euro gekostet. Die Eurokrise würde in Deutschland kaum weniger tiefe Spuren hinterlassen. Sollte sie voll auf die Wirtschaft durchschlagen, dann würde das Wirtschaftswachstum zurückgehen, die Steuereinnahmen schrumpfen, Arbeitsplätze würden vernichtet und gleichzeitig die Sozialkosten steigen. Davon auszugehen, dass ein Nichthandeln uns nichts kosten würde, halte ich für reichlich optimistisch. Sie sagen, dass die Eurostabilisierung nicht in Ihrem Sinne ist, aber wäre dies etwa eine jahrelange Rezession mit Massenarbeitslosigkeit?

Davon abgesehen, ist auch Deutschland auf liquide Finanzmärkte angewiesen. Als größte Wirtschaftsnation hat Deutschland mit den höchsten Kapitalbedarf in Europa. Deutschland hat 2 Billionen Euro Schulden. Um diese zu refinanzieren, müssen wir jedes Jahr rund 300 Mrd. Euro Altschulden durch neue Kredite umschulden, dazu kommt noch eine Neuverschuldung in Höhe von ca. 30 Mrd. Euro. In Anbetracht des Volumens des Bundeshaushaltes von rund 370 Mrd. Euro, ist es offensichtlich, dass es Deutschland nicht möglich ist, seine Kredite sowie die Neuverschuldung mit Haushaltsmitteln zu bedienen. Deutschland hat also ein existentielles Interesse daran, Verwerfungen auf den Finanzmärkten zu vermeiden. Nur weil Deutschland sich momentan noch sehr günstig refinanzieren kann, heißt das noch lange nicht, dass das auf Dauer so bleibt.

Die Ausgestaltung und Vollmachten des ESM müssen in Zusammenhang mit der Eurokrise betrachtet werden. Nicht der ESM führt Deutschland an den Rand eines Abgrunds, sondern die Eurokrise.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Volker Wissing, MdB

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