Frage an Volker Vödisch von Robert K. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Vödisch,
angesichts der Pressemeldungen über Jugendkriminalität interessiert es mich, wie Sie die Entwicklung der Jugendkriminalität einschätzen und welche Konzepte Die.Linke im Umgang mit solchen Jugendlichen hat.
Sehr geehrter Herr Krause
Die derzeitige öffentliche Darstellung des Themas Jugendkriminalität in der Politik und in den Printmedien ist ausgesprochen ärgerlich und erweist sich im Sinne einer lösungsorientierten Diskussion als wenig hilfreich. Insbesondere der hessische Ministerpräsident Koch und eine Reihe weiterer Unionspolitiker missbrauchen das Thema in unverantwortlicher Weise für ihre Wahlkampfzwecke. Sie scheren sich nicht um die Ursachen von Jugenddelinquenz, missachten jegliche Untersuchung zu diesem Thema und fordern dreist wie dumpf einen harten Staat, der auch Kinder im strafunmündigen Alter in den Jugendarrest verbringen soll. Sie fordern die Verschärfung des Jugendstrafrechts.
Dazu besteht nach Überzeugung der Partei Die Linke.Hamburg überhaupt kein Anlass. Tatsächlich lässt sich ein dramatischer Anstieg der Jugendkriminalität nicht verlässlich feststellen. Es wurde zwar ein Anstieg von Körperverletzungsdelikten registriert, aber auch ein Rückgang bei Tötungsfällen und Raubdelikten festgestellt. Doch im Grunde könne nach Meinung von Rechtsexperten keine gesicherte Aussage darüber getroffen werden, ob und wie sehr die Jugendgewaltkriminalität überhaupt gestiegen sei. Ich empfehle in diesem Zusammenhang die "Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts" von Prof. Dr. Wolfgang Heinz, der einen Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Konstanz bekleidet. Bei Kindern und Jugendlichen überwiegen ohnehin die leichten, spontan und nicht planvoll begangenen Delikte, die so genannte Bagatellkriminalität. Im Verhältnis dazu nimmt sich die Zahl der jugendlichen Gewalt-, Mehrfach- und Intensivtäter klein aus. Doch auf sie richtet sich der Fokus der Öffentlichkeit, eigentlich wird er darauf gelenkt.
Die sozialen Risikofaktoren, die dazu führen, dass Kinder und Jugendliche kriminelle Handlungen begehen bzw. begingen, sind seit langem bekannt. Ich möchte im folgenden auf einige Aspekte eingehen und ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder vor dem Hintergrund der Forderung Kochs lenken, sie in bestimmten Fällen dem Jugendstrafrecht zu unterwerfen.
Kinder um 12 jahre pubertieren. Ihre Persönlichkeitsentwicklung verläuft ungeheuer dynamisch, geprägt vom Auf und Ab, ständig an Grenzen stoßend, die sie sprengen möchten. Sie widersprechen, rebellieren, probieren aus, dramatisieren, leiden und handeln widersprüchlich. Sie befinden sich in der Folgezeit in einer konfliktreichen Zeit der Selbstfindung und Positionsbestimmung. Sie verlassen ihre Kindheit, sind aber noch nicht jugendlich. Gleichzeitig müssen sie ihr Umfeld verstehen, die an sie gestellten Anforderungen bewältigen und in ihre Entwicklung integrieren. Sie sollen soziale Kompetenz erwerben und Werte verinnerlichen. Doch dabei hilft ihnen im hohen Maße die Erwachsenenwelt nicht mehr so, wie sie es bräuchten.
In vielen Hamburger Stadtteilen ist der Zusammenhang von Armut und Perspektivlosigkeit mit den psychischen und körperlichen Belastungen der Kinder sowie ihren Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Diebstahl, Dealerei, und Zerstörungen,auch des Selbst, offenkundig. Gewalt in der Familie, Missbrauch, Übergewichtigkeit, Verwahrlosung, alkoholkranke Eltern, fehlende Kindergartenplätze, mangelnde Ernährung, Beziehungs- und Konfliktunfähigkeit, Arbeitslosigkeit der Eltern, der damit einhergehende Verlust der Würde, das Leben in zwei Kulturen mit allen Widersprüchlichkeiten und Konflikten, der drohende Wohnungsverlust und anderes belasten die Familienstrukturen immens, nähren die Ängste der Kinder, stellen für sie viel zu oft Normalität dar, mit der sie fertig werden müssen.
In jedem Fall sind die Kinder dabei die Verlierer. Sie haben kaum eine Chance, all das zu verarbeiten. Ihnen fehlen die Orientierungspunkte, die ihnen Halt geben könnten. Verhaltensauffälligkeiten sind dafür offenkundige Zeichen. Wenn ein Kind stiehlt, dann will es sich nicht zwangsläufig bereichern oder etwas erlangen, was es sonst nicht bekäme, sondern sendet damit vor allem Hilferufe aus wie "Seht her, ich bin in Not, nehmt mich wahr, tut etwas!"
Probleme dieser Art sind nicht strafrechtlich zu lösen. Die Politik muss präventiv handeln, nicht noch mehr Sanktionsmöglichkeiten erschließen!
In Hamburg bezogen zum Beispiel im November 2007 239.000 Menschen das Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung. Knapp 65.000 Kinder und Jugendliche leben in unserer Stadt in Armut. Bis zu 34% der Hauptschüler erreichen keinen Abschluss. Die Zahl derjenigen, die nicht mehr in Ausbildung und Beruf gelangten, stieg über Jahre in einem Besorgnis erregendem Maße an.
In derselben Zeit wurden die Träger der außerbetrieblichen Ausbildung mit Mittelkürzungen überzogen und mussten ihr Ausbildungsangebot stark reduzieren. In der Kinder- und Jugendhilfe wurde munter gestrichen und den dort tätigen Pädagogen immer mehr Belastungen aufgebürdet, obwohl diese Arbeit nur mit mehr und nicht mit weniger Personal und häufig genug nur mit Zusatzqualifikationen bewerkstelligt werden kann. Die Einführung der Ganztagsbetreuung in Schulen wurde unkundig mit heißer Nadel gestrickt, obwohl Lehrpersonal fehlte. Es fehlen nach wie vor LehrerInnen.
Es sind nur einige Faktoren, die die Entwicklung und die Lebensperspektive der Kinder negativ beeinflussen.
Die Linke. fordert deshalb unter anderem ...
- die verstärkte Förderung und den Ausbau der Familien- und Jugendhilfe in den sozial benachteiligten Stadtteilen.
- die Beseitigung des ungerechten Kita-Gutschein-Systems sowie kostenlose Kindergarten-, Krippen- und Kindertagesstättenplätze für Familien mit niedrigem Einkommen.
- mehr Integrationskindergärten in jedem Stadtteil
- die Ausweitung der Öffnungszeiten und der Angebote in den Jugendeinrichtungen sowie mehr Personal und finanzielle Mittel, um dies bewerkstelligen zu können
- den Ausbau der außerbetrieblichen Ausbildung von Jugendlichen ohne Schulabschluss
- zehn zusätzliche Stellen bei den Allgemeinen Sozialen Diensten des bezirklichen Jugendamts
- den kostenlosen Zugang von Kindern und Jugendlichen aus armen Familien zu öffentlich geförderten Sportvereinen und Schwimmbädern
- den Ausbau der sozialen Beratungseinrichtungen, insbesondere für die Erziehungs, Schuldner- und Rechtsberatung
- ein Sozialticket für Menschen mit geringem Einkommen, das die freie und kostenlose Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Dienstleistungen und Verkehrsmittel gewährleistet
- kostenlose Mittagessen für Kinder und Jugendliche aus Armutsfamilien in den Jugendhilfeeinrichtungen und in den Schulen
- Eine Schule für Alle bis zur 10. Klasse
- die daran anschließende Kollegschule mit den Klassen 11 bis 13, die zu einer Studienbefähigung und zu einer anerkannten Berufsausbildung führt
- die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit
- die Heraufsetzung der Mietkostenobergrenze um 100,00 Euro
- preiswerte Mieten, einen verstärkten sozialen und barrierefreien Wohnungsbau sowie eine verlängerte Mietpreisbindung für Sozialwohnungen
- die Erhöhung des Eckregelsatzes für AlG II-, Grundsicherungs- und Sozialhilfeempfänger von derzeit 347 Euro auf 500 Euro. Kinder und Jugendliche sollen zukünftig 300 Euro bzw. 400 Euro erhalten.
Ich hoffe Ihnen mit der Antwort auf Ihre Frage weitergeholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Volker Vödisch