Frage an Ulrike Merten von Gerhard R. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Merten,
wann werden die europäischen NATO-Partner endlich erkennen, daß die in Afghanistan angestrebten Ziele (Schaffung eines sich selbst tragenden Staates, Wiederaufbau usw.) unerreichbar sind?
Isaf-Kommandeur McNeill selbst hat erklärt, daß 400.000 Mann nötig wären, um Afghanistan nachhaltig zu befrieden. Auch nach dem Hinzukommen afghanischer Soldaten fehlen 260.000 Mann (Der Spiegel 22/2008, S. 126).
Aus dem Tagesspiegel vom 30.6.08 "Mehr Soldaten heißt mehr Tote" (Auszug):
Im Juli 2007 meldeten unwidersprochen die Medien, daß durch westliche Soldaten mehr unschuldige Afghanen ums Leben kamen als durch die Taliban - ein echter "Wasserfall" auf die Mühlen der Aufständischen.
Der effektiven Taktik der Taliban hat der Westen nichts Wirksames entgegenzusetzen. Wollte man mit einem Mehr an Soldaten entgegenwirken, müßte man hinter jede Schule, jeden Bürgermeister, jedes Gefängnis und jeden Polizeiposten einen westlichen Panzer stellen. Man bräuchte nicht nur 400.00 Mann sondern eher 4 Millionen!
Allgemein bekannt ist, daß der Nachschub an Menschen und Waffen für die Taliban aus Pakistan nie abreißen wird.
Laut Altbundeskanzler Schmidt (Menschen bei Maischberger am 20.5.08) ist auch bei Menschenrechtsverletzungen eine mlitärische Einmischung abzulehnen, weil die Folgen der Kriegshandlungen unkalkulierbar sind.
Wie beurteilen Sie diese Feststellung?
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Reth
Sehr geehrter Herr Reth,
vielen Dank für Ihre Frage. Bitte entschuldigen Sie die etwas verspätete Antwort. Ich war in der vergangenen Woche als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in Israel und Zypern (UNIFIL) unterwegs.
Seit fast sechs Jahren schützt die Bundeswehr im Rahmen der NATO mit mehr als 3.500 Soldaten den Aufbau von staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan. Der militärische Einsatz hat das Ziel, Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zivilpersonal, insbesondere solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicheren Umfeld arbeiten können. Obwohl der zivile Wiederaufbau und die Entwicklung im Mittelpunkt steht, wird die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit auf den militärischen Einsatz gelenkt.
Ich möchte die Grundlagen und die Ziele unseres Handelns in Afghanistan etwas detaillierter erläutern.
**Die Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington wurden möglich, weil sich Afghanistan zu einem Trainingszentrum für Terroristen entwickelt hatte.
Es war und ist Ziel der internationalen Staatengemeinschaft dafür zu sorgen, dass von Afghanistan keine terroristische Bedrohung mehr ausgeht. Es gilt, Stabilität in Afghanistan herzustellen und eine politische Entwicklung voranzutreiben, die den Menschen in Afghanistan Sicherheit und Frieden bringt, und einen Rückfall in den früheren Zustand verhindert.
Die demokratisch gewählte und legitimierte Regierung Afghanistans hat die internationale Gemeinschaft um ihre Unterstützung gebeten. Das deutsche Engagement ist in das der internationalen Gemeinschaft eingebettet. Den gemeinsamen Handlungsrahmen bildet dabei der Afghanistan Compact vom Januar 2006. Mehr als fünfzig Staaten haben sich entschlossen, gemeinsam den Wiederaufbau Afghanistans zu unterstützen und zur Absicherung des zivilen Aufbaus auch Streitkräfte einzusetzen. Die Antworten auf die zentralen Herausforderungen in Afghanistan sind ebenso sicherheits- wie entwicklungspolitischer Natur. Die Bundesregierung verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der viele Arten von Unterstützungsleistungen für Afghanistan umfasst. Das Erfordernis eines solchen übergreifenden zivil-militärischen Ansatzes wurde während des NATO-Gipfels in Riga im November 2006 von den Verbündeten bekräftigt In der Folge sind bereits umfangreiche zusätzliche Mittel für zivile Projekte bereit gestellt worden.
Der Erfolg des gesamten internationalen Engagements wird maßgeblich davon abhängen, dass mit der Stabilisierung der Sicherheitslage der Aufbau von staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen in Afghanistan gelingt. Die Menschen in Afghanistan und die von ihr gewählte politische Vertretung tragen die Verantwortung für den nachhaltigen Aufbau des Landes. Das Ziel des Engagements der internationalen Gemeinschaft besteht darin, Hilfe und Unterstützung zur Selbsthilfe zu geben, damit die Menschen in Afghanistan schließlich unabhängig von Dritten die Geschicke ihres Landes in einem friedlichen regionalen Umfeld gestalten können.
* *Die Bundeswehr leistet seit Beginn des internationalen Engagements im Rahmen eines VN-Mandates einen unverzichtbaren Beitrag zur notwendigen militärischen Absicherung des Stabilisierungs- und Wiederaufbauprozesses in Afghanistan.
Sie ist seit Ende 2003 mit Kräften in der Nordregion präsent und führt seit Juni 2006 das Regionalkommando Nord der ISAF. In der Region konnten mit dem Instrument der fünf "Regionalen Wiederaufbauteams" (PRT), darunter zwei unter deutscher Führung, Fortschritte bei der Stabilisierung und beim Wiederaufbau erzielt werden. Insgesamt haben wir zur Zeit in Afghanistan 26 PRT´s Teams, die zivil und militärisch besetzt sind, die für die staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen ein sicheres Umfeld schaffen und für den Wiederaufbau des Landes eine große Bedeutung haben. Die internationale Gemeinschaft ist mit einer Vielzahl von Organisationen in Afghanistan vertreten. Neben zahlreichen staatlichen Einrichtungen sind allein 2.600 Nicht-Regierungsorganisationen dort tätig, die die unterschiedlichste Interessen vertreten und Hilfsmaßnahmen durchführen.
Der Wiederaufbau Afghanistans erfolgt unter dem Schutz von mehr als 50.000 Soldaten aus 37 Nationen. Um die Sicherheit für die Menschen im ganzen Land sicher zustellen, fordern Fachleute eine Erhöhung der Stärke der militärischen Kräfte. Doch ich halte es für wichtiger, dass wir die Anstrengungen erhöhen, um die afghanische Polizei und die afghanischen Streitkräfte so ausbilden und ausstatten, dass sie möglichst bald die Sicherheit ihres Landes selber sichern können. Denn die afghanische Polizei und die Armee haben längst noch nicht die geplanten Stärken von je ca. 70.000 ausgebildeten Polizisten und Soldaten erreicht. Um den Aufbau der Sicherheitskräfte sicherzustellen, müssen wir insbesondere die Anstrengungen zur Ausbildung, insbesondere bei der Polizei, deutlich erhöhen.
**Wichtig ist, dass wir immer wieder daran erinnern, dass der zivile Wiederaufbauprozess in Afghanistan im Mittelpunkt steht. Die Stabilisierung der Sicherheitslage kann nur unter militärischer Präsenz durch die ISAF-Mission geschehen. Unter deren Schutz muss jedoch der forcierte Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte betrieben werden, um schrittweise die alliierten Streitkräfte abziehen zu können. Das sollte die Zielrichtung für das weitere sicherheitspolitische Vorgehen in Afghanistan sein.
Ich weiß sehr wohl, wie. Sie stellen viele Menschen , insbesondere wenn deutsche Soldaten Polizisten und Entwicklungshelfer ums Leben kommen, das Engagement unseres Landes in Afghanistan, bzw. alle Auslandseinsätze der Bundeswehr, in Frage. Deshalb möchte ich nochmals betonen, die Bundeswehr leistet zusammen mit Soldaten aus 37 Staaten im Rahmen eines VN-Mandates einen unverzichtbaren Beitrag zur notwendigen militärischen Absicherung des Stabilisierungs- und Wiederaufbauprozesses in Afghanistan. Zöge man die Truppen ab, droht das ganze Staatswesen auseinander zufallen; mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung und für die gesamte Region. Deshalb unterstützt der Deutsche Bundestag, zuletzt im Herbst 2007, mit einer Mehrheit von fast 80 Prozent seiner Mitglieder auch der Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen des Isaf Mandates um ein Jahr.
Doch ich will nicht beschönigen, die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich verschlechtert, der zivile Aufbau des Landes hat sich nicht so entwickelt, wie wir es erwartet haben. Der Aufbau der afghanisches Polizei, der Justiz und der Afghanischen Streitkräfte hat hohe Priorität, die Anstrengungen auf diesem Gebiet sind deutlich zu verbessern. Schritte um dieses zu erreichen sind eingeleitet.
Doch es gibt auch erste Erfolge. So sind in den letzten Jahren mehr als 3500 Schulen gebaut, Es sind mehr als 4000 km neue Straßen gebaut, 1 Milliarde Quadratmeter Land von Minen geräumt und die Getreideversorgung der Bevölkerung kann nahezu durch eigene Ernten sichergestellt werden. Eine Studie der freien Universität Berlin stellte fest, dass das Engagement der Bundesrepublik im Norden Afghanistans auf eine große Zustimmung in der Bevölkerung stößt.
Am 12.Juni2008 fand in Paris die Internationale Konferenz zur Unterstützung Afghanistans statt, in der u.a. eine Halbzeitbilanz der Umsetzung der Afghanistan Compact vorgenommen wurde. Hierbei sagten die Nationen ihre weitere Unterstützung des Wiederaufbaues Afghanistans zu und sagten für den Wiederaufbau des Landes fast 20 Milliarden Euro zu.
In dieser Konferenz wurde u.a. als positive Entwicklung festgestellt:
* 6 Millionen Kinder gehen zur Schule, dabei erstmals auch die Mädchen
* die medizinische Versorgung hat sich verbessert , ca 80 Prozent der Bevölkerung erhält heute eine medizinische Grundversorgung
* 55.000 Soldaten sind ausgebildet, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten.
* das landesweit erfolgreiche Aufbauprogramm (National Solidarity Programme) der afghanischen Regierung
Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, dass wir unsere Ziele in Afghanistan erreichen können. Ich halte es weiter für unverzichtbar, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern unsere Zusage, den Friedens -- und Demokratisierungsprozess in Afghanistan zu unterstützen, einhalten.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrike Merten