Frage an Tom Koenigs von Christine K. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Koenigs,
Sie antworteten am 16. März auf eine Frage von Klaus Massier, die parlamentarische Mitbestimmung sei hinsichtlich des ESM gewährleistet und dass Sie wenig Grund zur Sorge um unsere Demokratie sähen.
Ich habe Fragen zu einzelnen Punkten des ESM und würde mich freuen, Ihre Sicht zu erfahren.
Art. 8 Abs. 2 des ESM bestimmt, dass der Gouverneursrat den Ausgabekurs des ESM-Kapitals beliebig erhöhen kann. Das bedeutet, dass die Höhe der deutschen Haftung auch beliebig höher sein kann als die bisher diskutierten unfassbaren 190 Milliarden Euro.
Art. 25 Abs. 2 legt eine Nachschußpflicht fest, wir dürfen heute davon ausgehen, dass uns diese Pflicht realistischerweise auferlegt wird, bspw. wenn Spanien,Portugal oder Griechenland ihre eigenen Einzahlungen nicht leisten können. Zusätzlich kann der ESM lt. Artikel 21 unbeschränkt Kredite aufnehmen - also faktisch Eurobonds.
Sind die Kosten aus Ihrer Sicht damit noch kalkulierbar? Wie hoch kalkulieren Sie die Kosten ?
In der FAZ von heute http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/schuldenkrise-retten-ohne-ende-11832561.html ist beschrieben, wie im Fall von "Dringlichkeitsbeschlüssen" (Art. 4 Abs. 4, eine genaue Definition von "Dringlichkeit" fehlt) wohl vorgegangen werden muss. Der Finanzminister, Mitglied im Gouverneursrat, wird sein Parlament bitten müssen, die "Dringlichkeitsbeschlüsse" nachträglich zu genehmigen. Tut das Parlament das nicht, so hat das den Regelungen des ESM nach keine Folgen. Der ESM, niemandem zur Rechenschaft verpflichtet, unbegrenzter Geheimhaltung unterlegen, deren Manager lebenslange Immunität geniessen, wird seine "Dringlichkeitsbeschlüsse" umsetzen. Unbeschadet der Beschlüsse des Deutschen Bundestages.
Sind damit die Parlamentsbeteiligungsrechte noch gewährleistet?
Es würde mich freuen, wenn Sie inhaltlich auf die von mir aufgeführten Punkte des ESM eingehen und Ihre Sicht darlegen könnten.
Mit freundlichem Gruß
Christine Kirchhoff
Sehr geehrte Frau Kirchhoff,
die Antwort auf Ihre Frage hat etwas gedauert, aber es war dazu ein wenig Aktenstudium und Austausch mit klügeren Menschen als mir notwendig war.
Zur besseren Übersichtlichkeit habe ich die Antwort gevierteilt.
1) "Deutsche Haftung beliebig höher als 190 Mrd. Euro": Der Anteil Deutschlands am ESM ist gesetzlich im sogenannten ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG) festgeschrieben und damit keinesfalls beliebig höher. Deutschland wird sich am Gesamtbetrag des einzuzahlenden ESM-Kapitals (80 Mrd. Euro) mit einem Betrag in Höhe von 21,71712 Mrd. Euro (gemäß dem EZB-Schlüssel) sowie am Gesamtbetrag des abrufbaren ESM-Kapitals (620 Mrd. Euro) mit einem Betrag in Höhe von 168,30768 Mrd. Euro beteiligen. Diese Summen sind nicht ausdehnbar. Es sei denn, der Bundestag beschließt eine entsprechende Gesetzesänderung. Ohne einen solchen Beschluss des Bundestag muss der Bundesfinanzminister einen Beschlussvorschlag zur Erhöhung des ESM-Volumens im Gouverneursrat ablehnen.
2) "Bei Dinglichkeitsbeschlüssen wird wohl der Bundesfinanzminister sein Parlament nachträglich bitten müssen zuzustimmen": Das ist falsch. Die ebenfalls im ESM-Finanzierungsgesetz festgeschriebenen Beteiligungsrechte unterscheiden nicht zwischen "Dinglichkeitsbeschlüssen" und "normalen" Beschlüssen. Daher wird der Bundestag in Dinglichkeitsverfahren genauso beteiligt wie bei Beschlüssen im Normalverfahren. Zudem kann im Gouverneursrat (Finanzminister der Euro-Staaten) oder Direktorium (Staatssekretäre u.ä. aus den nationalen Finanzministerien) kein Dringlichkeitsbeschluss ohne die Stimmen des deutschen Vertreters vollzogen werden. Denn trotz der dann erforderlichen qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent hat Deutschland mit seinem Stimmenanteil von 27 Prozent ein Vetorecht. Und da der deutsche Vertreter nicht ohne vorherige Beteiligung des Bundestages zustimmen darf, gilt auch im Dringlichkeitsverfahren: kein Beschluss ohne die vorherige Beteiligung des Deutschen Bundestages.
3) "Nachschusspflicht nach Art. 25 Abs. 2" Auch die sogenannten "Nachschusspflichten" können sich nur im Rahmen des im ESMFinG festgeschrieben Anteil Deutschlands am abrufbaren Kapitals bewegen. Eine "Nachschusspflicht" kann zum Beispiel dann notwendig werden, wenn ein Kredit-Empfängerland seine Kredite nicht rechtzeitig zurückzahlen kann, der ESM jedoch die Gläubiger seiner am Markt aufgenommenen Kredite bedienen muss. Ohne einen zugesicherten Ausgleich von eventuellen Verlusten, würde das Risiko für die Gläubiger steigen und somit die Zinsen für die ESM-Kreditaufnahme am Markt ansteigen.
4) In Artikel 21 des ESM-Vertrages ist nichts darüber zu lesen, dass der ESM "unbeschränkt Kredite aufnehmen" kann.
Ich hoffe, diese Antworten helfen Ihnen weiter.
Mit freundlichen Grüßen
Tom Koenigs