Was sagen Sie dazu "Stimmen an sehr kleine Parteien können die Regierungsbildung schwierig und das Land unregierbar machen"?
Sehr geehrter Herr R.,
vielen Dank für Ihre Frage. Grundsätzlich empfehle ich allen wahlberechtigten Personen, diejenige Partei zu wählen, deren Programm am meisten überzeugt, unabhängig davon wie groß oder klein die Partei ist. Bei der Wahl sollten meiner Meinung nach Inhalte entscheidend sein und nicht die Größe oder Bekanntheit einer Partei.
Eine lebendige Demokratie benötigt Austausch, Diskussion und Kompromiss. Folglich ist es meiner Meinung nach unabhängig von der konkreten Konstellation immer möglich, Lösungen zu finden, wenn eine Begegnung auf Augenhöhe stattfindet. "Schwierige Regierungsbildung" und "Unregierbarkeit" sind für mich fadenscheinige Argumente, um einerseits im Vorfeld einer Wahl die Menschen davon abzubringen, entsprechend ihrer vollsten Überzeugung zu wählen (auch wenn es sich um eine "kleinere" Partei handelt). Andererseits dient dieses Argument als Ausrede, um Austausch, Diskussion und Kompromiss aus dem Weg zu gehen.
Was bedeutet denn eigentlich "Regierbarkeit"? Es bedeutet, dass Parteien gemeinsam eine absolute Mehrheit bilden und so die Regierung stellen. Das hat zur Konsequenz, dass über Gesetzesvorschläge der Regierung nicht mehr kontrovers diskutiert werden muss, weil die Regierungsfraktionen in aller Regel die Mehrheit, also die Zustimmung des Parlaments sichern. Selbst wenn die Opposition wichtige und bedenkenswerte Gegenargumente liefert, ist es vom Wohlwollen der Regierungsfraktionen abhängig, ob diese berücksichtigt werden und der Vorschlag entsprechend angepasst wird.
Selbst wenn die Konstellation sich so gestalten sollte, dass sich eine Regierungsbildung (auf herkömmlichem Weg) schwierig gestaltet, dann kann dies als Chance betrachtet werden, um kreativ zu werden und neue Wege zu gehen.
Es wäre bspw. denkbar, dass alle Parteien an der Regierung beteiligt werden, so dass jede Partei mindestens ein Ministerium erhält. Um nun für konkrete Gesetzesvorschläge eine Mehrheit zu erhalten, reicht es nicht, sich auf die Zustimmung der Regierungsfraktionen zu verlassen, da ja alle Parteien zur Regierung gehören. Vielmehr müsste über den Vorschlag diskutiert und um Zustimmung gerungen werden. Pro und Contra müssten ausgetauscht und abgewogen werden. Ich denke, dass auf diese Art und Weise bessere Ergebnisse und Beschlüsse möglich sind.
Ein weiterer Vorteil wäre, dass die Idee im Vordergrund steht und nicht die Frage, ob ein Anliegen von den Regierungsfraktionen oder von der Opposition ins Parlament eingebracht wird. Norbert Röttgen (CDU) hat nämlich erst am 18.08.2021 bei Maischberger erklärt, dass die Regierungskoalition Anträge aus der Opposition routinemäßig ablehne. (1)
Wenn "Regierbarkeit" bedeutet,
- dass mögliche geniale Ideen und Gesetzesvorhaben stur aus Prinzip abgelehnt werden, weil sie nicht von der Regierung stammen,
- während eigene Vorhaben einfach "durchgewunken" werden, ohne sich den vielleicht berechtigten und sinnvollen Gegenargumenten stellen zu müssen,
dann halte ich "Unregierbarkeit" nach dieser Definition tatsächlich für eine Chance, unsere Demokratie nachhaltig zu verbessern.
Aus dieser vermeintlichen "Unregierbarkeit" müsste wieder um Lösungen gerungen werden. Wenn wir uns dann zusätzlich vom "Fraktionszwang" verabschieden, dann stehen wieder die Inhalte im Vordergrund. Dann müssten die gewählten Vertreter*innen mit den besten Argumenten überzeugt werden.
Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass eine solche "unregierbare Situation" auch dann auftreten kann, wenn eine "große" Partei gewählt wird. Ein paar Beispiele hierzu: Eine Stimme für die SPD kann schwarz-grün verhindern, eine Stimme für die FDP oder die CDU kann rot-grün-rot verhindern, eine Stimme für die CDU kann rot-grün-gelb verhindern, ...
Es ist schlichtweg nicht vorhersehbar, welche Konstellation nach der Wahl tatsächlich und mit Sicherheit möglich ist. Zusätzlich halte ich nichts von diesem "taktischen Wählen", was mich wieder zu meinem ersten Argument führt: Ich wünsche mir, dass die Menschen entsprechend ihrer Überzeugung diejenige Partei mit dem für sie besten Wahlprogramm wählen.
Alles weitere ist dann die Aufgabe der Abgeordneten. Wahre Demokraten finden immer gute Lösungen. Einen kreativen Ansatz, selbst für eine vermeintlich schwierige Situation, habe ich oben beschrieben.
Nachweise:
(1) https://politik.watson.de/unterhaltung/tv/778780543-afghanistan-debatte-maischberger-und-gysi-bringen-roettgen-in-bedraengnis
Video zur Sendung: https://www.youtube.com/watch?v=hvhfuk3H7Fg