Frage an Ties Rabe von Claus D. M. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Rabe,
haben Sie wirklich, wie das Abendblatt zitiert, die Diskussion um die Schullaufbahnempfehlungen eine "Gespensterdiskussion" genannt ?
Wenn ich mich recht erinnere haben sich alle Bürgerschaftsfraktionen im Rahmen der sogenannten Schulfriedensdiskussion gegen Schullaufbahnempfehlungen ausgesprochen.
Insbesondere, da seit langem empririsch nachgewiesen ist, dass die Mehrzahl dieser falsch ist.
Statt dessen wurde ein Kompetenzraster und intensive Lehrer/Eltern/Schüler-Gespräche empfohlen.
Ich empfinde das Kompetenzraster auf dem Bogen zwar nicht als ausreichend, aber zumindest als ersten Ansatz.
Nun ändert Herr Wersich seine Meinung und verteilt Formulare mit einem Empfehlungsfeld.
Er verstößt damit gegen den Beschluss des letzten Jahres und Sie nennen dies eine "Gespensterdiskussion".
Haben Sie, hat Herr Wersich, neue Erkenntnisse oder ist Ihnen einfach egal was beschlossen wurde?
Wenn neue Erkenntnisse vorliegen würde ich mich über eine Übermittlung dieser sehr freuen.
Danke
Sehr geehrter Herr Metzner,
vielen Dank für Ihre Frage, auf die ich gern antworten möchte. In Bezug auf die Kritik an der jetzt vorgeschlagenen Form der Schullaufbahneinschätzung gebe ich Ihnen Recht. Die überzogenen Kritik von GAL und LINKE daran teile ich dagegen nicht. Leider ist meine Antwort in dem Bemühen, Klarheit zu schaffen, etwas länger ausgefallen. Ich bitte um Entschuldigung, aber die Sache ist kompliziert.
In der Bürgerschaft und in der Öffentlichkeit haben die Fraktion darüber diskutiert, ob und in welcher Form die Grundschulen die Schullaufbahn der Kinder nach Klasse 4 einschätzen können und sollen. Dabei erweckten GAL und LINKE den Eindruck, dass an dieser Entscheidung die Zukunft der Stadtteilschule hängen würde. Gleichzeitig wurde der Eindruck erweckt, dass eine bestimmte Form der Schullaufbahneinschätzung pädagogisch vertretbar sei, eine andere überhaupt nicht.
So berechtigt die grundsätzliche Diskussion über die Schullaufbahneinschätzung ist, so unsinnig sind diese beiden von GAL und LINKE diskutierten Aspekte.
Die Stadtteilschule wird eine hervorragende Schule und in Zukunft sicher von mehr als der Hälfte aller Hamburger Schülerinnen und Schüler nach Klasse 4 angewählt. Für die SPD war, ist und bleibt die Stadtteilschule ein Schwerpunkt unserer Schulpolitik. Diese Schule muss ein Erfolg werden, wenn wir in Hamburg die Chancengleichheit und den Bildungserfolg verbessern wollen.
Leider ist der Start dieser neuen Schulform erheblich dadurch belastet, dass die GAL-geführte Schulbehörde zwei Jahre lang den Start der Stadtteilschule im Sommer 2010 verschlafen hat und sich nicht bzw. nur äußerst unzureichend um die dringend notwendige Vorbereitung dieses Starts gekümmert hat. Die Arbeitsgruppen, die diesen Start vorbereiten und Konzepte und Lösungen erarbeiten sollten, traten erst nach (!!) dem Start der neuen Schulen zusammen und haben bis heute keine tragfähigen Ergebnisse vorgelegt. Es ist der Initiative der engagierten Schulleiter zu verdanken, dass ein halbes Jahr nach dem Start wenigstens erste Züge für ein Leitbild entworfen wurden.
Statt aber diesen Fehler zuzugeben sucht die GAL jetzt einen Sündenbock für die Startschwierigkeiten der von ihr vernachlässigten Stadtteilschulen. Und diesen Fehler schiebt man nun dem CDU-Übergangsschulsenator Wersich in die Schuhe. Seine Modifikation der so genannten Schullaufbahn-Einschätzung soll nun angeblich der Grund für die Startschwierigkeiten der Stadtteilschule sein. Genau dieses Ablenkungsmanöver ist die "Gespensterdiskussion".
Zu den Verhandlungen um den Schulfrieden: Ich bin verwundert darüber, dass angeblich alle Journalisten und die interessierte Öffentlichkeit genau wissen, was die Verhandlungspartner beim Thema Schulfrieden vereinbart haben. Sie waren doch gar nicht dabei! Als eines von gerade zehn Verhandlungsmitgliedern habe ich sicher einen recht genauen Einblick in die Vereinbarungen, zumal ich ausnahmslos an jeder Sitzung beteiligt war und diese Vereinbarungen sogar selbst mit entwickelt habe. Und deshalb kann ich nur sagen: Die Behauptung, Herr Wersich würde mit seiner Vorschrift gegen das Schulgesetz, den Schulfrieden und die Verhandlungen verstoßen, ist falsch.
Ich hatte bereits in der Bürgerschaft ausgeführt, dass die temperamentvolle Diskussion in der Verhandlungsgruppe zum Thema Schullaubfbahnempfehlung keineswegs ein klares Ergebnis hatte, sondern in einem Formelkompromiss endete. Der bestand darin, das Wort "Empfehlung" der Schullaufbahn abzuschaffen (soweit haben GAL und LINKE Recht mit ihrem Vorwurf gegen die CDU) und stattdessen durch das Wort "Einschätzung der Schullaufbahn" zu ersetzen. Worin eigentlich der Unterschied besteht und was das konkret bedeutet, konnte nicht geklärt werden. Vielmehr haben das die Verhandlungspartner ausdrücklich der Schulbehörde überlassen. Einige taten das wohl wissend, dass die GAL-regierte Schulbehörde eine besondere Lesart dieses Beschlusses dann konkretisieren wird.
Ich bin lange genug im politischen Geschäft tätig, um zu wissen, was das konkret bedeutet. Die GAL wollte die Empfehlung abschaffen, die CDU nicht. Man fand ein neues Wort anstelle der Empfehlung - die "Einschätzung". Damit konnten beide leben. Denn die GAL konnte sagen, die "Empfehlung ist weg". Und die CDU konnte sagen, "es bleibt bei der klaren Einschätzung". Niemand dagegen weiß, ob in der Sache wirklich ein Unterschied zwischen diesen beiden Wörtern besteht. Auch das hatte ich im Parlament gesagt. Wenn sich hundert Politiker hinsetzen und den Unterschied zwischen "Empfehlung" und "Einschätzung" der Schullaufbahn erklären müssen, kommen dabei sicher 100 verschiedene "Einschätzungen" oder "Empfehlungen" heraus. Und wer wirklich die Worte auf die Goldwaage legen würde, müsste eigentlich überrascht feststellen, dass das neue Wort "Einschätzung" eher verbindlicher und "härter" ist als das Wort "Empfehlung".
Aber das hat die Verhandlungsgruppe natürlich nicht getan. Sie hat einen Formelkompromiss gefunden und dann geregelt: Was das genau bedeutet, was nun wirklich passieren wird, das wird jeweils dem überlassen, der die Behörde regiert. Das fand die GAL damals gut, denn sie wollte den windelweichen Beschluss auf ihre Art und Weise auslegen. Nun aber regiert die CDU, und Herr Wersich legt den Beschluss anders aus. Wer das Schulgesetz und den Schulfrieden und erst Recht die Verhandlungen genau kennt weiß: Beides ist möglich, ohne gegen Gesetz, Schulfrieden oder den Geist der Verhandlungen zu verstoßen.
Und nun zur Sache. Richtig ist, dass
1. eine verlässliche Prognose der Schullaufbahn eines Kindes nicht möglich ist, weder nach Klasse 4 noch nach Klasse 6. Deshalb hat die SPD ja auch als einzige Partei immer für das Elternwahlrecht gekämpft - oft gegen den Widerstand aller anderen Parteien.
2. Richtig ist, dass deshalb die Eltern das Recht zu einer eigenen Entscheidung haben müssen (Genau das haben übrigens in der Vergangenheit GAL und LINKE immer bestritten, sie behaupteten, nach Klasse 6 sei die Schullaufbahn so klar vorauszusagen, dass das Elternwahlrecht abgeschafft werden könne. Seltsam wie diese Parteien jetzt plötzlich die Ungenauigkeit jeder Einschätzung betonen...)
3. Richtig ist, dass eine Einschätzung eines Viertklässlers mit der notwendigen Differenziertheit erfolgen muss. Das bedeutet, dass beispielsweise Kompetenzen genauer aufgeführt und erklärt werden müssen.
4. Richtig ist, dass eine derart komplexe Einschätzung der Kompetenzen den Eltern nur sehr indirekte Hinweise zur geeigneten Schullaufbahn gibt. Eltern aber wollen in der Regel - neben einer differenzierten Einschätzung der Kompetenzen ihres Kindes - genau wissen, wie die Grundschule die Schullaufbahn ihres Kindes einschätzt. Konkret: Welche weiterführende Schullaufbahn ist die richtige?
5. Richtig ist aber auch - und das hat die CDU nicht verstanden und das hat auch Herr Wersich im Empfehlungsbogen leider ganz falsch gemacht - dass Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialeinschätzung sowohl für das Gymnasium als auch für die Stadtteilschule eine Empfehlung bekommen müssen.
Deshalb halte ich es für richtig, dass
1. die Kompetenzen der Viertklässler in dem Einschätzungsbogen differenziert und verständlich bewertet werden. Dazu muss der Bogen sicher noch einmal überarbeitet werden.
2. die Eltern zusätzlich auch eine verständliche Einschätzung der Schule im Hinblick auf die Frage bekommen, ob das Kind den besonderen Leistungsanforderungen des 8-jährigen Gymnasiums gewachsen ist.
3. der Einschätzungsbogen den Eltern künftig klar signalisiert, dass die Stadtteilschule für jedes Kind die richtige Schule ist (auch für Kinder mit Gymnasialeinschätzung), das Gymnasium dagegen nur für einige Kinder geeignet ist.
Deshalb ist es sicher so, dass die bestehenden Einschätzungsbögen im Hinblick auf diese Eckpunkte überprüft und ggf. modifiziert werden müssen. Insbesondere geht es nicht an, dass bestimmte Kinder nur für das Gymnasium empfohlen werden, nicht aber für die Stadtteilschule.
Aber umgekehrt halte ich es für einen Fehler, wenn die für Eltern wichtige Frage nach der Schullaufbahneinschätzung nicht beantwortet wird. Bei jedem Tag der offenen Tür unserer Schule, bei jedem Gespräch mit den Eltern von Viertklässlern werden meine Kollegen und ich mit dieser Frage gelöchert - und den mir bekannten Lehrerinnen und Lehrern an den Grundschulen geht es genau so.
Darauf muss Schulpolitik antworten. Und nicht so, wie die GAL das in den Verhandlungen zum Schulfrieden als Ausweg andeutete: Nämlich dass die Lehrer diese aus Sicht der GAL politisch unappetitliche Frage mündlich beantworten könnten, damit der offizielle Einschätzungsbogen politisch "sauber" bleiben kann. Ich halte nichts davon, die Wirklichkeit auszublenden und sich eine eigene Welt zu wünschen.
Herzliche Grüße
Ties Rabe