Frage an Thomas Strobl von Borja B. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Strobel
In Ihrer Antwort vom 15.07. an Frau C. L. erläuterten Sie das die Statistiken und damit die Angaben zur Kinderarmut in Dutschland falsch berechnet wurden.
Deshalb meine Frage an Sie:
1.Wie hat sich die Kinderarmut in Deutschland in Prozenten seit 2000 entwickelt (also alg II mal mit betrachtet)?
2. Ab wann gilt ein Kind in Deutschland als Arm?
3. Ab wann gilt ein Mensch im allgemeinen in Deutschland als Arm (also Erwachsene)?
Sehr geehrter Herr Bretzke,
für Ihre Frage danke ich Ihnen. Entschuldigen Sie zunächst meine extrem späte Antwort. Die in den letzten Monaten sehr intensive Beschäftigung mit der Volksabstimmung über Stuttgart 21 und ihren Konsequenzen hielt mich von einer früheren Rückmeldung ab. Ich hoffe, Sie sehen mir das nach. Doch nun zu Ihrem Anliegen.
Ich möchte Ihr Interesse an der statistischen Abbildung von Armutszahlen gerne aufgreifen und versuchen, zu einem besseren Überblick beizutragen.
In meinem vorherigen Schreiben ging es mir darum, auf die Unwägbarkeiten hinzuweisen, denen wir uns im Umgang mit statistischen Daten und deren Interpretation gegenübersehen. Leider wird allzu oft die Karte mit dem Territorium verwechselt und dabei außer Acht gelassen, dass unterschiedliche Referenz- und Basiswerte zu signifikanten Abweichungen und damit zu übergewichteten oder fehlinterpretierten Tendenzen führen können. So gilt es, mit Sorgfalt die verschiedenen Konzepte zu betrachten und in der Diskussion den Überblick zu bewahren.
Besonders gefährlich wird es, wenn eine Änderung der Konventionen zu einem neuen Messverfahren führt und sich Entwicklungen im Zeitablauf erst durch Umrechnung und Datentransfer darstellen lassen. Aber damit nicht genug der Verwirrung: Mitunter kommt es nun vor, dass verschiedene Organisationen diese Neuerungen nicht synchron, sondern mit deutlichem Zeitabstand umsetzen (so geschehen bei OECD und DIW). Wohl dem, der in dem resultierenden, nahezu babylonischen Zahlensalat den Überblick behält. Ein sehr interessanter Artikel zur Thematik mit Bezug auf ebendiese Probleme speziell bei der Berechnung von Armut findet sich in der FAZ vom 22.05.2011 ( http://www.faz.net/artikel/C30923/kinderarmut-in-deutschland-die-ware-zahlen-30337847.html ).
Wie wird nun also Armut gemäß gängiger Richtlinien gemessen? Nach der Definition der Europäischen Kommission gilt ein Mensch dann als arm, wenn er über ein so geringes Einkommen verfügt, dass ihm ein Lebensstandard verwehrt wird, der in der Gesellschaft, in der er lebt, als annehmbar gilt. Dies gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Wie Sie sehen, handelt es sich um eine recht vage Definition, die in Form von konkret messbaren Zahlen operationalisiert werden muss, soll sie statistisch erfassbar werden. Dabei orientiert man sich am durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung. Nun gibt es zwei Messverfahren: Nach dem ursprünglichen Verhältnis galt derjenige als arm, der weniger als 50% des Nettoäquivalenzeinkommens seiner Mitbürger zur Verfügung hatte. Neuere Berechnungen legen stattdessen einen Messwert von 60% zu Grunde, womit die relative Armut natürlich sprunghaft ansteigt. Weitere Konzepte betrachten Menschen als arm, die auf Sozialleistungen angewiesen sind oder unter der sogenannten „sozialen Ausgrenzung“ leiden, herbeigeführt von Barrieren, die den Zugang zu wichtigen sozialen Bereichen versperren. Ungeachtet der quantitativen Unterschiede stellt Markus M. Grabka vom DIW sowohl bei der Fünfzig- wie bei der Sechzig-Prozent-Schwelle einen leichten Rückgang der Kinderarmut um knapp zwei Prozentpunkte zwischen 2004 und 2008 fest.
Wie Sie sehen, lässt sich das Phänomen Armut nicht mit ausschließlich einem, dazu noch streng quantitativen, Maß erfassen. Es muss vielmehr immer genau hinterfragt werden, nach welchen Methoden die jeweils betrachtete Berechnung durchgeführt wurde und welche Interessen der Autor mit der Darstellung möglicherweise haben könnte. Nur durch diese kritische Analyse lassen sich die Untiefen einer jeden Statistik umschiffen und sich ihre Aussagen als das verstehen, was sie sein sollen: Eine möglichst wahrheitsgetreue Abbildung der Realität und damit das Handwerkszeug für eine angemessene und effiziente Politik.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Strobl MdB