Frage an Thomas Oppermann von Frank D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag,
ich wende mich an Sie zum Thema Rechtsstaat.
Konkret beziehe ich mich auf den § 93 b BVerfGG. Demnach kann das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde (ohne Begründung) nicht zur Entscheidung annahmen, also ablehnen. Wenn man die Statistiken des Bundesverfassungsgerichtes anschaut, so werden tatsächlich die meisten Verfassungsbeschwerden (ohne Begründung) erst gar nicht zur Entscheidung angenommen.
Eine solche Verfassungspraxis ist nach meiner Auffassung zutiefst bedenklich, weil die Gründe für die Nichtannahme zur Entscheidung im Verborgenen bleiben. Dieser Mangel an Transparenz betrifft zum einen den Beschwerdeführer, zum anderen aber auch die interessierte Öffentlichkeit.
Es ist nach geltender Gesetzgebung möglich, dass Bundesverfassungsrichter wegen Arbeitsüberlastung oder wegen Unlust Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung annehmen. Außerdem ist durch die jetzige Regelung eine uneinheitliche Rechtsanwendung von Verfassungsbeschwerden möglich bzw. nicht überprüfbar. Tatsächlich werden der Öffentlichkeit (und dem Beschwerdeführer) die Gründe für die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden nachgeltender Rechtslage vorenthalten.
Die vorgelagerten Fachgerichte haben im Falle von Grundrechtsverletzungen aktuell wenig zu befürchten, da die meisten diesbezüglichen Verfassungsbeschwerden, wie bereits ausgeführt, ohne Begründung abgeschmettert werden.
Von einem funktionierenden Grundrechtsschutz der Bürger dieses Landes kann aufgrund der herrschenden Rechtslage wohl kaum die Rede sein. Fakt ist, dass dieses Manko von den etablierten Parteien politisch so gewollt ist, denn das BVerfGG in der jetzigen Fassung wurde von ihnen so beschlossen. Was konkret möchte die SPD zur Beseitigung der derzeitigen rechtlichen Schieflage beitragen, damit ein wirksamer Schutz der Grundrechte für alle Bürger dieses Landes möglich wird?
MfG
Sehr geehrter Herr Baum,
richtig ist, dass die weit überwiegende Anzahl der eingereichten Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen und die Entscheidung der Nichtannahme in der Regel auch nicht begründet wird. Nicht begründet, also ohne bekannt gegebene Begründung, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit grundlos.
§ 93b Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt, dass "die Kammer (...) die Verfassungsbeschwerde ablehnen oder im Falle des § 93c BVerfGG zur Entscheidung annehmen (kann)". Damit wird der Kammer für die Annahme oder Ablehnung lediglich die Zuständigkeit übertragen. Eine Aussage, nach welchen Kriterien sie entscheidet, enthält § 93b BVerfGG nicht.
Die Kriterien, wann eine Verfassungsbeschwerde anzunehmen ist, sind in § 93a BVerfGG geregelt. Danach muss die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen werden, wenn „ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“ oder „wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte (Grundrechte und Verfahrensgrundrechte) angezeigt ist“. Die Kammern sind daher keineswegs frei, willkürlich – oder wie Sie schreiben: wegen Unlust oder Arbeitsüberlastung – zu entscheiden.
Wird eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, so ist der Grund, dass keiner der Annahmegründe aus § 93a BVerfGG vorliegt.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Oppermann