Frage an Thomas Oppermann von Andreas V. bezüglich Wirtschaft
Lieber Herr Oppermann,
mit entsetzen habe ich realisieren müssen, dass Sie und ihre Partei Befürworter des ESM Vertrages sind. Nun frage ich mich, ob parteiintern eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Knebelvertrag stattgefunden hat. Haben Sie vielleicht die historische Dimension von Ermächtigungsgesetzen aus den Augen verloren und dem Gedächtnis verbannt?
Hier ein paar Auszüge aus dem Vertragswerk:
Artikel 9: Kapitalabrufe
«Die ESM-Mitglieder sagen hiermit bedingungslos und unwiderruflich zu, bei Anforderung jeglichem [...] Kapitalabruf binnen 7 Tagen nach Erhalt dieser Forderung nachzukommen.»
Artikel 10: Änderung des Grundkapitals
«Der Gouverneursrat kann Änderungen des Grundkapitals beschließen und Artikel 8 ... entsprechend ändern.»
Der Gouverneursrat besteht aus nicht gewählten Vertretern der Mitgliedsländern, und das sind zu einem großen Teil eben die so genannten «PIGS», also die Länder, die schon längst pleite sind, und bisher noch um Hilfszahlungen bitten mussten. Das müssen sie dann nicht mehr. Sie beschließen einfach, daß sie noch mehr Geld brauchen und fordern es auch ein. Und zwar in unbegrenzter Höhe.
Artikel 27: Rechtsstellung des ESM, Immunität und Vorrechte
«2. Der ESM [...] verfügt über volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit für [...] das Anstrengen von Gerichtsverfahren.»
«3. Der ESM, sein Eigentum, seine Finanzmittel und Vermögenswerte genießen umfassende gerichtliche Immunität.»
«4. Das Eigentum, die Finanzmittel und Vermögenswerte des ESM sind von Zugriff durch Durchsuchung, Beschlagnahme, Einbeziehung, Enteignung und jede andere Form der Inbesitznahme ... durch Regierungshandeln oder auf dem Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzeswege befreit.»
Jede Partei, die diesem Vertragswerk guten oder schlechten Gewissens zustimmt, ist für den kritischen Bürger nicht mehr wählbar. Sehen Sie das anders?
Grüße ,
Andreas Voigt
Sehr geehrter Herr Voigt,
ich teile Ihre Einschätzung nicht, dass es sich um einen „Knebelvertrag“ oder ein „Ermächtigungsgesetz“ handelt. Dieser historische Vergleich ist abwegig: Das Ermächtigungsgesetz von 1933 sollte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft legitimieren und setzte die Grundrechte außer Kraft. Otto Wels hat damals in einer mutigen Rede die entschiedene Ablehnung der SPD-Fraktion gegen Hitlers Pläne deutlich gemacht.
Weder durch den ESM noch durch den Fiskalpakt werden dem Deutschen Bundestag seine entscheidenden Haushalts- und Kontrollrechte genommen. Die SPD hat immer darauf geachtet, dass die maßgeblichen Beschlüsse durch den Gesetzgeber getroffen werden. Gemeinsam mit den Grünen haben wir durchgesetzt, dass Bundestag und Bundesrat sowohl beim ESM als auch beim Fiskalpakt umfassend beteiligt werden. Beim ESM bedeutet das, dass der Bundestag – wie schon beim EFSF – den wesentlichen Entscheidungen vorab zustimmen muss, bevor die Bundesregierung oder ein deutscher Vertreter in Brüssel und Frankfurt grünes Licht geben können.
An Ihren Zitaten aus dem ESM fällt mir auf, dass sie den jeweiligen Kontext nicht berücksichtigen und außerdem teilweise aus veralteten Vertragsentwürfen zitieren. Die Endfassung des ESM-Vertragswerks können Sie auf der Webseite des Europäischen Rates hier abrufen:
http://www.european-council.europa.eu/media/582866/02-tesm2.de12.pdf.
Aus Artikel 9 des Vertrags reißen sie den letzten Satz eines längeren Abschnitts aus seinem Kontext. Es geht lediglich darum, dass der geschäftsführende Direktor ermächtigt wird, Kapitalzusagen, die von den jeweiligen Länderparlamenten und –regierungen bereits genehmigt worden sind, binnen sieben Tagen abzurufen, falls dies notwendig sein sollte. Wie Ihnen Jürgen Trittin, dem Sie dieselbe Frage gestellt haben, bereits erklärt hat, ist dies sinnvoll, „damit der ESM als verlässlich gilt und ein gutes Rating bekommt/behält.“
Sie behaupten, der Gouverneursrat bestehe aus „nicht gewählten Vertretern der Mitgliedsländer.“ Dies trifft nicht zu: Artikel 5 des ESM-Vertrags legt fest, dass jeder Mitgliedstaat im Gouverneursrat durch ein Regierungsmitglied, im Regelfall den Finanzminister, vertreten ist. Allen wesentlichen Entscheidungen, insbesondere einer von Ihnen genannten Erhöhung des ESM-Stammkapitals, kann der deutsche Vertreter im Gouverneursrat nur mit vorheriger, ausdrücklicher Zustimmung des Deutschen Bundestags zustimmen.
Abschließend zitieren Sie einige Versatzstücke aus Artikel 27. Hier handelt es sich offensichtlich um eine veraltete Fassung. Die Immunität ist mittlerweile im Artikel 32 des ESM-Vertrages geregelt. Ich stimme der Einschätzung des Kollegen Trittin zur Immunität des ESM zu: „Die Immunität bezieht sich lediglich auf ihre amtlichen Handlungen. Das heißt, niemand soll z.B. angeklagt werden können, weil er -- unter den gegebenen Voraussetzungen - ein bestimmtes Land für nicht solvent befunden hat. Die Immunität erstreckt sich jedoch nicht auf strafbare Handlungen, die nichts mit den Amtshandlungen zu tun haben.“ Solche Immunitätsregelungen sind bei europäischen Institutionen und diplomatischen Vertretungen nicht ungewöhnlich, wie auch bereits der für seine stets kritische Haltung bekannte Kollege Ströbele hier auf Abgeordnetenwatch eingeräumt hat.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Oppermann