Silvia Lehmann, 2021, Copyright Karoline Wolf
Sylvia Lehmann
SPD
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Frage von Ernest G. •

Sind Sie für oder gegen einen EU-Beitritt der Türkei? Wie wichtig sind Ihnen die Beziehungenn zu Erdogan? Sind Sie beim Bergkarabach-Konflikt eher auf Seiten von Aserbaidschan, oder von Armenien?

Sehr geehrte Frau Lehmann,

ich bin überhaupt nicht glücklich mit der Türkei-Politik sowie mit dem Umgang mit der Erdogan-Regierung durch die Bundesregierung in den letzten Jahren. Ich finde, man hat Erdogan zu viel gewähren lassen, anstatt ihm gegenüber mal klare Kante zu zeigen!

Was meinen Sie?

Außerdem würde ich gerne noch wissen: Was hat man eigentlich davon, die Beitrittsgespräche mit der Türkei trotz eklantanter Verstöße gegen Menschenrechte sowie Meinungs- und Pressefreiheit weiterhin fortzuführen? Soll die Türkei mitsamt der repressiven Politik von Erdogan ein Teil der EU werden? Wenn ja: Warum?

Sollten die "Grauen Wölfe" und die DITIB Ihrer Meinung nach verboten werden? Ich selber wäre ganz klar für ein Verbot!

Und: Sind Sie eher für Armenien, oder für Aserbaidschan im Kaukasus-Konflikt? Oder, sind Sie da doch eher neutral?

Und, wie beurteilen Sie das Regime von Aliyew in Aserbaidschan?

Auf Ihre Antworten würde ich mich freuen!

Mit freundlichen Grüßen

Ernest Goetz

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Goetz,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 31. August.

Ich kann Ihren Unmut bezüglich der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nachvollziehen. Erst kommen wir (konkret: die EU) sehr lange nicht „aus dem Knick", dann ändert die Regierung Erdogan ihre politischen Vorzeichen: Gerade in den letzten Jahren wurden zunehmend Verstöße gegen die Menschenrechte und eine offenkundige Abwendung von demokratischen Prinzipien beobachtet. Kaum Pressefreiheit, der Austritt aus der Istanbul-Konvention und das Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Oppositionspartei HDP – keiner dieser Punkte stimmt mit dem europäischen Leitbild überein. Gerade weil die Beitrittsgespräche mit der EU seit 2016 auf Eis liegen und immer wieder von Sanktionen die Rede ist, wird eine Intensivierung des EU-Türkei-Dialogs, der auch diese Fragen kritisch erörtert, dringend notwendig. Bedenken Sie eines: Unabhängig von der formalen Frage eines Beitritts bleibt die Türkei einer der wichtigen Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union. Bedenken Sie darüber hinaus, dass uns eine langjährige Zusammenarbeit verbindet und dass die Bundesrepublik Deutschland den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, die in den Sechzigern aus der Türkei zu uns gekommen sind, viel verdankt. Bedenken Sie außerdem, dass die gelegentlich als notwendig diskutierte formelle Beendigung der Beitrittsgespräche seitens der EU nichts an der Tatsache ändern würde, dass die Türkei ein strategisch sehr wichtiger Partner der EU in Fragen wie Migration, Sicherheit, Terrorismusbekämpfung und Wirtschaftsentwicklung ist und bleibt.

Als weiteres Thema sprachen Sie die Grauen Wölfe bzw. die Ülkücü-Bewegung an, der in Deutschland mehr als 18.500 Mitglieder angehören. Sie gilt als größte rechtsextreme Organisation in Deutschland. Es heißt, dass sie traditionelle Parteien oder Institutionen gezielt zu unterwandern versucht. Der Einfluss dieser Organisation muss daher unbedingt zurückgedrängt werden. Ich begrüße, dass der französische Präsident die Organisation der Grauen Wölfe in Frankreich verboten hat. Der Deutsche Bundestag hat bereits Ende 2020 ein Verbot der Grauen Wölfe in Deutschland gefordert - doch rechtlich scheint es nicht einfach zu sein, dieses durchzusetzen. In jedem Falle gilt es, über die Ziele und Methoden der Bewegung im Sinne der Demokratiebildung aufzuklären. Hierfür sollten Programme über das Bundesprogramm „Demokratie leben!" oder die Bundeszentrale für politische Bildung sowie Informationsmaterial des Bundesamtes für Verfassungsschutz  sorgen. Hierfür müssen bestehende Finanzierungen verstetigt und gegebenenfalls weitere aufgelegt werden. 

Bezüglich eines Vereinsverbotes für die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V." (kurz Ditib) verstehe ich Ihre Besorgnis angesichts einiger schwerer Vorwürfe gegen Anhänger dieses Vereins. Doch bei einem Großteil der Verbände haben wir keine Zweifel daran, dass sie freiheitlich demokratische Ziele verfolgen. Hier sind Dialog und Zusammenarbeit der beste Weg,  um gemeinsame Ziele zu erreichen: Gemeinsam mit islamischen Verbänden und Gemeinden, die unabhängig vom Ausland sind, wollen wir beispielsweise Programme gegen Islamismus erarbeiten. Auch befürworten wir das Engagement der Bundesländer und der Bundesregierung, die Ausbildung von Imamen in Deutschland und den Ausbau von Lehre und Forschung in islamischer Theologie an deutschen Universitäten voranzutreiben. Mit Organisationen, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, kooperieren wir nicht. Im Gegenteil: Verfassungsfeindliche Organisationen werden wir verbieten!

Ein weiterer von Ihnen angesprochener Themenkonflikt ist die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan. Dieser Konflikt ist äußerst schwierig zu bewerten, nicht zuletzt, da es kaum unabhängige Beobachter vor Ort gibt. Zwei fundamentale völkerrechtliche Prinzipien standen hier in einem Konflikt: Das Prinzip der territorialen Integrität (Bergkarabach und die von Armenien besetzten Gebiete gehören zu Aserbaidschan), und das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung (Bergkarabach wird überwiegend von Armeniern bewohnt). Dieser grundlegende Konflikt hat bis Anfang November eine Verständigung der beiden Länder verhindert und zu einer Verhärtung der Lage geführt. Nach erheblichen Gebietsverlusten Armeniens und massivem Druck Russlands willigten beide Parteien in einen Waffenstillstand ein. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dies immer gefordert und unterstützt, um eine weitere militärische Eskalation in der Region Bergkarabach zu stoppen. Angesichts neuer gefährlicher Auseinandersetzungen vor allem im südlichen Bereich der Grenze zwischen beiden Staaten wünsche ich mir weiterhin eine vermittelnde Position Deutschlands, anstatt durch eine klare Positionierung die Fronten noch weiter zu verhärten.

Zuletzt sprachen sie das Alijew-Regime an. Bereits 2015 überprüfte Frank Schwabe (SPD), Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie stellvertretender Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung, als Wahlbeobachter die Lage in Aserbaidschan. Sein Fazit schon damals: „Auch wenn der Wahltag an sich friedlich ablief, kann die Wahl nicht als freie, demokratische Wahl bezeichnet werden. In Aserbaidschan wird die Opposition massiv unterdrückt und hatte zum Teil gar keine Kandidaten aufgestellt. Auch ist die freie Meinungsäußerung sowie die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt.“
Wir wollen keine „Kaviardiplomatie“. So verlagten wir als SPD-Bundestagsfraktion schon 2015 die Freilassung der politischen Gefangenen in Aserbaidschan und fordern heute eine Initiative zur umfassenden Aufklärung der Korruptionsvorwürfe im Europarat.
Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen beantworten konnte. 
Mit freundlichen Grüßen
Sylvia Lehmann

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