Frage an Sven-Christian Kindler von Tim Z. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kindler,
meine Frage betrifft die Forderung der SPD nach einer Änderung des deutschen Wahlsystems und der Abschaffung von Überhangmandaten. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Partei, Thomas Oppermann, sprach sogar von einer drohenden Staatskrise, falls dies nicht geschehen sollte. Wie stehen die Grünen und auch Sie persönlich zu diesem Thema, und was halten Sie von Herrn Oppermanns Äußerung?
Mit freundlichen Grüßen
Tim Zuber
Sehr geehrter Herr Zuber,
herzlichen Dank für ihre Anfrage zur Wahlrechtsreform, die ich hiermit gerne wie folgt beantworte.
Seit 1. Juli 2011 gibt es in Deutschland kein verfassungsgemäßes Wahlrecht mehr. Schon eine eventuell vorgezogene Bundestagswahl stünde dann in der Gültigkeit in Frage. Denn Schwarz-Gelb nimmt die Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht ernst. Experten gehen davon aus, dass dann das Bundesverfassungsgericht eine Übergangslösung erlassen könnte. Dies wäre eine schallende Ohrfeige für die Politik. Insofern stimme ich der Aussage des Kollegen Oppermann, auf die Sie Bezug nahmen, zu. Auch unser, der Fraktion Bündnis 90 / Die Grüne, Parlamentarischer Geschäftsführer Volker Beck äußerte sich bereits in dieser Richtung.
Drei ganze Jahre hatte Karlsruhe dem Gesetzgeber Zeit gegeben, um das so genannte "negative Stimmgewicht" im Wahlgesetz zu beseitigen. Dieses Phänomen kann in Zusammenhang mit Überhangmandaten auftreten und dazu führen, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. Das verstößt gegen den Verfassungsgrundsatz der Gleichheit der Wahl. Union und FDP haben nun am Tag des Frist-Auslaufens - nach drei Jahren - einen unausgegorenen Vorschlag im Bundestag in die erste Lesung gegeben.
Nun möchten Union und FDP ein Wahlrecht, dass nicht den Mehrheitswillen der Wähler im Parlament abbildet, sondern ihn durch Überhangmandate in sein Gegenteil verkehren kann. Das widerspricht dem Demokratieprinzip. Wenn der Vorschlag von Union und FDP nicht das Risiko einer Verfälschung des Wählerwillens durch Überhangmandate beseitigt, sehen wir uns wahrscheinlich sehr schnell in Karlsruhe wieder. Der aktuelle Vorschlag garantiert lediglich eine unnötige Aufblähung des Bundestags um etwa 30 bis 60 Überhangmandate. Die Überhangmandate hätten dann Fraktionsstärke.
Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag hatten schon lange davor gewarnt, dass nun wieder aus Eile Hektik wird. Die Folge ist zudem ein Vorschlag der Regierungsparteien, der statt der von Karlsruhe geforderten Verständlichkeit des Wahlrechts das Gegenteil herstellt.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat bereits im Februar 2011 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes eingebracht, der das negative Stimmgewicht durch eine systemkonforme Änderung im Wahlsystem beseitigt. Der Entwurf garantiert auch, dass im Bundestag die Mehrheit sitzt, die von den Wählerinnen und Wählern gewählt wurden. Unser Entwurf löst auch auf einfachen Weg das Problem der Überhangmandate der CSU in Bayern. Dort werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandidaten mit den geringsten prozentualen Stimmenanteilen nicht besetzt. Gegen diesen Vorschlag gibt es keine verfassungsrechtlichen Bedenken. So hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof, dessen Mitglieder seit Jahrzehnten von der CSU-Mehrheit bestimmt werden, entschieden, dass eine Regelung zulässig ist, wonach bei Überhängen "die Stimmkreisbewerber in der Reihenfolge der niedrigsten Stimmzahlen ausscheiden".
Mit freundlichen Grüßen
Sven-Christian Kindler, MdB