Frage an Sigrid Beer von Susanne K. bezüglich Familie
Sehr geehrte Frau Beer,
in den vergangenen Wochen und Tagen kam immer öfter an die Öffentlichkeit, dass es unter anderem bei Parteimitglieder der Grünen in der Vergangenheit zu pädophilen Praktiken kam. Sind Ihnen als Bezirksvorsitzende der Grünen ebenfalls solche Fälle im Hochstift bekannt?
Ihr Parteikollege Ströbele fordert indes in diesem Bundestagswahlkampf eine Abschwächung des Inzestpargraphen: Sex unter Geschwistern solle erlaubt werden. Ich bin erschüttert, dass ein Politiker einer mehrheitsfähigen Partei, wie es die Grünen geworden sind, ungehindert solche Thesen frei formulieren kann, ohne dass sich Ihre Partei von diesen kruden Thesen wenigstens distanziert. Deshalb meine Frage an Sie, Frau Beer, wie Sie persönlich zum derzeitgen Inzestparagraphen stehen.
Noch weiter geht Ihre Jugendorganisation, die Grüne Jugend. Sie fordert die komplette Abschaffung des Inzestparagraphen, d.h. dass die Grüne Jugend nicht nur sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern tolerieren möchte. Noch schockierender als Herr Ströbeles Forderungen finde ich diese Thesen, die ich nicht nur aus Presse, sondern auch der Internetpräsenz der Grünen Jugend entnommen haben.
Frau Beer, sind Sie auch eine Befürworterin von Inzest? Und wenn das nicht der Fall ist, warum distanziert sich Ihre Partei und vor allem Sie sich nicht von der Grünen Jugend, bzw. Herrn Ströbele?
Sicherlich ist dieses Thema äußerst sensibel. Ich halte es aber für notwendig, dass die Grünen und auch Sie als MdL Klarheit in diese Sache bringen. Vermutlich ist es auch nicht in Ihrem Sinne, dass die Grünen als Inzestpartei verspottet wird.
Freundliche Grüße
Sehr geehrte Frau Kaiser ,
danke für Ihre Mail, die ich gerne beantworte.
Ich bin 1999 in Paderborn Mitglied der Grünen geworden. Unter anderem auch, weil mich die Arbeit gegen Missbrauch, sexuelle Gewalt, gegen Diskriminierung und für Emanzipation, die gerade in Paderborn von aktiven Grünen geleistet wurde und wird, motiviert hat, mich politisch zu engagieren. Ich kenne niemanden, der oder die Pädophilie nicht entschieden entgegen getreten wäre. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Frage der Aktivitäten von Pädophilen in den 80ziger Jahren und zu den Anfangszeiten der Grünen von einem unabhängigen, renommierten Politikwissenschaftler aufgeklärt wird. Aktivitäten, die absolut inakzeptabel sind und waren.
Die Diskussion um den Inzestparagrafen ist schon im Jahr 2008 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ( https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20080226_2bvr039207.html ) und 2012 durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte debattiert worden. Ich will deutlich sagen, dass ich die ethische Grenzziehung für richtig und notwendig halte. Die Juristen diskutieren allerdings, ob diese Grenzziehung im Strafrechtsparagrafen zutreffend gefasst ist. Alle Formen von Missbrauch (Vater missbraucht Tochter oder Sohn) sind strafrechtlich eindeutig geregelt. Im dem Verfahren vor dem EUMGH ging es um eine Beziehung von Geschwistern, die getrennt aufgewachsen sind und sich erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben. Der betreffende Strafrechtsparagraf ist in sich widersprüchlich. Das hat auch schon der Bundesverfassungsrichter Hassemer (Link siehe oben) in seinem ausführlichen Votum zum Urteil 2008 dargestellt: "So ist beispielsweise die Entscheidung des Gesetzgebers, die Strafbarkeit des Geschwisterinzests auf den Beischlaf zu beschränken und andere sexuelle Handlungen straflos zu lassen, möglicherweise geeignet, um der Gefahr der Fortpflanzung zu begegnen, eher nicht geeignet zur Sicherung der sexuellen Selbstbestimmung und sicherlich ungeeignet zum Schutz von Ehe und Familie."
Der Hinweis auf Erbschäden ist sehr wichtig. Aber auch hier ist die Frage zu stellen, ob das strafrechtlich so zu regeln ist. Wieder ein Zitat aus der Stellungnahme von Hassemer: "Auch lässt sich die Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte nicht mit dem möglichen Argument der Belastung Dritter rechtfertigen, etwa der Familie, in die ein geschädigtes Kind hineingeboren werde, oder auch der Allgemeinheit, die zu fürsorgerischen Aufwendungen veranlasst sei. Dies liefe auf die Verneinung des Lebensrechts behinderter Kinder allein aus lebenskonträren Interessen und Fiskalbelangen anderer hinaus." Wir können in der Tat keinen Strafrechtstatbestand daraus konstruieren, dass Kinder aus einer Verbindung behindert sein könnten (unabhängig vom Inzest), dann müssten z.B. Spätgebärende mit größerem Risiko, behinderte Kinder zur Welt zu bringen, zur Präimplantationsdiagnostik bzw. genetischen Diagnostik gezwungen werden. Ebenso Eltern mit Behinderungen. Oder es würde diesen Eltern verboten werden, Kinder zu bekommen, weil sie zu einer Risikogruppe zählen. Gerade nach dem Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen "unwertes Leben" sollten wir ethisch und moralisch alles sehr gut durchdenken, was wir in unsere Rechtsnormen niederlegen und welche Folgewirkungen das haben kann. Das hat nichts mit Rechtfertigung von Inzest zu tun, aber es zeigt wie genau Begründungen sein müssen, wenn sie im Strafrecht niedergelegt sind. Darum diskutieren auch Juristen den Paragrafen kontrovers.
Der deutsche Ethikrat deshalb hat dazu im November 2012 eine Anhörung durchgeführt. In seinem Infobrief ( http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/infobrief-03-12.pdf ) finden Sie eine zusammenfassende Darstellung. Die Ausgangslage wird dort noch einmal beschrieben: "Der EGMR hatte im April dieses Jahres allerdings festgestellt, dass § 173 Abs. 2 des Strafgesetzbuches nicht gegen den Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz des Familienlebens) verstößt und der Gesetzgeber in diesem Bereich einen weiten Ermessensspielraum hat, weil es in der Frage der Strafbarkeit des Geschwisterinzests keinen europäischen Grundkonsens gibt. Unter Juristen ist der entsprechende Paragraf jedoch umstritten. Das Strafrecht sei dem Thema nicht angemessen, so heißt es. Auch in Europa sind die bestehenden Regelungen sehr unterschiedlich. Während es in einigen Ländern, wie z.B. in Großbritannien, ein Inzestverbot wie in Deutschland gibt, wurde dieses Verbot in Ländern wie Belgien und den Niederlanden abgeschafft."
Der Audiomitschnitt der gesamten Veranstaltung ist unter http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/anhoerungen/inzestverbot abrufbar.
Sehr geehrte Frau Kaiser, ich hoffe, ich konnte darlegen, dass es eine klare Grenzziehung in der Frage Inzest geben muss. Aber ob das Strafrecht das so präzise regelt, wie es nötig ist, darüber gibt es Diskussionen unter Juristen bis hin zum Bundesverfassungsgericht und im Ethikrat. Für zu kurz greifende, populistische politische Zuspitzungen von welcher Seite auch immer, eignet sich das Thema nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
Sigrid Beer