Frage an Sigrid Beer von Birgitt Juliane F. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrte Frau Beer!
1. Wie ist Ihre Position zu den Förderschulen,Kompetenzzentren und zu dem gemeinsamen Unterricht behinderter Kinder an allgemeinbildenden Schulen? Ich möchte den Fokus auf die Kinder lenken, die eine geistige Beeinträchtigung /Behinderung haben,wie z.B. bei der Lernbehinderung.
Das z.B. reine körperliche behinderte Kinder,die im Rollstuhl sitzen müssen, aber dem Unterricht kognitiv folgen können nicht unbedingt in eine Förderschule müssen,stelle ich außer Frage!
2. Wie kann man jedes Kind tatsächlich adäquat und optimal fördern,wenn die Klassen im GU nicht kleiner werden können,da lieber Schulen geschlossen oder zusammengelegt werden anstatt darauf zu achten, dass die Rahmenbedingungen wirklich im GU besser werden?Stecken da Finanzprobleme hinter?
3. Bisher hat man, wenn Förderschulpädagogen an die allg. Schulen versetzt wurden, Lehrer/innen im allg. Unterricht abgezogen, damit der Schüler-Lehrer-Schlüssel gleich blieb und damit es nicht zu teuer wurde.Wird sich das ändern?
4. Förderschullehrer/innen sollen gezwungen werden,vielseitig zu arbeiten.
Das kann keine optimale und adäquate Förderung des Kindes sein,wenn es keine Spezialisierungen auf max. zwei Förderbedarfe und der jeweilige Unterrichtsschwerpunkte mehr geben soll. Worauf soll ein Pädagoge sich noch konzentrieren ohne auszubrennen und andauernd überfordert zu sein?
5. Wie soll flächendeckend der GU auch Sek.I umgesetzt werden,wenn an den Förderschulen der Unterricht nicht ausfallen darf,obwohl von da aus die Fach-Pädagogen zu den allg. Schulen geschickt werden sollen?
6. Können nicht vielmehr auch nur die "Grenzfälle" wirklich sinnvoll im GU unterrichtet werden?
7. Wo sollen die stärker behinderten Kinder hin,wenn auch deren Eltern sich nicht um diese richtig kümmern (soziale Vernachlässigung)?
8. Warum werden Kinder mit Förderbedarf zur Förderschule mit einem Fahrdienst gebracht, zum GU aber nicht?Die Behinderung ist doch die selbe beim selben Kind!
VIELEN DANK!
Sehr geehrte Frau Ferrier,
ich danke Ihnen für Ihre Fragen.
Lassen Sie mich bitte dazu eine Vorbemerkung machen: Zwei meiner drei Kinder hatten das Glück im gemeinsamen Unterricht in der Sekundarstufe I zu lernen. In Lerngruppen gab es immer Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, auch Kinder mit geistiger Behinderung.
Ich war zehn Jahre lang Schulpflegschaftsvorsitzende und haben den gemeinsamen Unterricht aus der Elternperspektive von Kindern mit und ohne Behinderungen begleitet wie auch aus der Perspektive meiner beruflichen Tätigkeit, nämlich der Verantwortung für schulpraktische Teile der Lehrerausbildung an der Universität Paderborn für die Grundschule und SEK I.
Im Rahmen meiner politischen Tätigkeit bin ich auch heute noch viel in Schulen unterwegs und im ständigen Gespräch mit Eltern und Lehrkräften.
Zunächst nun meine Grundsatzposition:
Im Frühjahr 2009 hat die Bundesrepublik die UN-Konvention für die Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Danach hat jedes Kind - auch das mit Behinderungen - das Recht auf Teilhabe am allgemeinen Bildungssystem, das heißt auf inklusive Bildung im Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen. In NRW werden bislang etwa 85% der Kinder mit Förderbedarf aussortiert und auf Förderschulen unterrichtet. Dies geschieht in vielen Fällen gegen den Wunsch der Eltern. All das widerspricht der UN-Konvention. Die Grünen stehen schon seit Jahren für Inklusion, auch als alle anderen Parteien noch ablehnend bis zögerlich waren. Wir haben auch im Landtag den Diskussionsprozess dazu maßgeblich gestaltet. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Kinder mit und ohne Behinderungen vom gemeinsamen Lernen profitieren! Das betrifft nicht nur das soziale Lernen, sondern auch die Leistungsentwicklung. Wir gehen in Deutschland mit unserem System der Sonderschulen und der Gliederung des Schulwesens insgesamt einen Sonderweg, der international auch nur schwer zu erklären ist. Das Bildssystem muss insgesamt weiterentwickelt werden und das geht nicht von heute auf morgen. Der Prozess muss aber angegangen werden. Wir wollen das Schulgesetz ändern und den Anforderungen der UN-Konvention anpassen. Darin soll das Recht des Kindes, ausgeübt durch die Eltern auf Wahl des besten Förderortes verankert werden. Eine Zwangszuweisung zu Förderschulen wird unterbunden.
Wir brauchen für die Umsetzung des Ziels der Inklusion einen verbindlichen Inklusionsplan, der auch sicherstellt, dass die notwendigen pädagogischen Fachkräfte, SonderpädagogInnen, SozialpädagogInnen, Integrationsassistenzen in den Regelschulen im Team der "Regel"-Lehrkräfte arbeiten. Das ist ein mehrjähriger intensiver Prozess, in dem zudem die Fortbildung der Lehrkräfte gewährleistet sein muss, denn im gemeinsamen Unterricht muss das Lernen anders gestaltet werden. Wir haben hervorragende Beispiele, wie das in den Schulen gelingt. Ich will an dieser Stelle nur auf die Gesamtschulen Bonn-Beuel oder Köln Holweide hinweisen.
Es geht insgesamt um ein individualisiertes Lernen für alle Kinder, die eben auch ganz unterschiedliche Lernziele und Bildungsabschlüsse erreichen können. Von dieser Art des Lernens profitieren Kinder mit allen Potenzialen, gerade auch die Leistungsstarken. Das ist überhaupt eines der Grundprobleme im Unterricht, dass der Unterricht zu sehr auf die DurchschnittsschülerInnen ausgerichtet ist und Kinder zu häufig unter- oder überfordert werden.
Die Grünen wollen, dass das Verhältnis umgedreht wird und nach 10 Jahren mindestens 85% der Kinder mit Behinderungen in Regelschulen unterrichtet werden.
Sie haben völlig recht, wenn sie darauf hinweisen, dass sich die Bedingungen im Gemeinsamen Unterricht verbessern müssen. Die Lerngruppen sollen nach unserer Auffassung maximal die Zahl von 20 SchülerInnen umfassen. SonderpädagogInnen kommen zusätzlich fest in die Schulen und ersetzen nicht die Regellehrkräfte. Das heißt, dass im Inklusionsplan auch der Übergang der Lehrkräfte aus den Sonderschulen in die allgemein bildenden Schulen geregelt wird.
Die Fahrtkostenregelungen müssen in der Tat begleitend grundsätzlich überarbeitet werden. Es ist widersinnig, dass die weiten Fahrten zu den Sonderschulen übernommen werden, es aber massive Probleme im GU gibt. Lebensfremd sind u. a. auch die Vorschriften für die IntegrationshelferInnen, die ja über das Sozialgesetz finanziert werden und nur "ihr! Kind" unterstützen dürfen. Wenn dem Schüler nebenan der Bleistift herunterfällt, dürfte die Integrationshelferin ihn rechtlich gesehen nicht für ihn aufheben. Das ist absurd. Sie sehen, dass wir viele Regelungsbedarfe haben. Dazu müssen Schulentwicklungs-, Jugendhilfe- und Sozialplanung kommunal aufeinander abgestimmt werden.
Sie fragen auch nach den Kompetenzzentren. Die derzeitigen Kompetenzzentren müssen auf das Ziel der Inklusion hin ausgerichtet werden. Das ist bisher nicht der Fall und die Ressourcenausstattung ist sehr begrenzt. Kompetenzzentren sollen sich zu Kompetenzzentren ohne SchülerInnen, dafür aber für Lehrkräfte zur Fortbildung, fachlichem Austausch und Beratung entwickeln.
Inklusion heißt nicht, dass jetzt schwerst-mehrfach behinderte Kinder in die Klassen geschoben werden. Aber gerade diese speziellen Förderschulen können Bestandteil einer Regelschule sein und die besonderen Förderbedarfe leisten. Es gibt übrigens auch schon etliche Förderschulen, die sich für RegelschülerInnen öffnen wollen. (Wie das gelingen kann, zeigt die Waldhofschule Templin Spezialistin für Behinderungen in der geistigen Entwicklung http://www.waldhofschule.de )
Sehr geehrte Frau Ferrier, Sie sprechen auch noch einen weiteren wichtigen Punkt an, nämlich dass für Kinder mit Behinderungen der Ganztag sichergestellt sein muss, damit alle Kinder unabhängig von ihrer familiären Situation optimal gefördert werden. Uns ist dabei wichtig, dass auch eine familienpädagogische Arbeit greift, für die Familien, die aus verschiedenen Gründen Unterstützung brauchen.
Uns ist bewusst, wie anspruchsvoll die Aufgabe ist wie sorgfältig sie angegangen werden muss. Aber das Recht auf Inklusion ist ein Menschrecht, dass weit mehr als ein inklusives Schulsystem umfasst. Es ist für die Grünen ein politischer Kernauftrag, der alle Lebensphasen umfasst.
Sigrid Beer MdL