Frage an Sibylle Centgraf von Wolf S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Centgraf.
In einer Antwort schrieben Sie: „Ich trete für meine christliche Überzeugung ein, und meine, dass eine Begünstigung des christlichen Religionsunterrichtes in unserem Land durchaus berechtigt wäre.“
Dies von einer Grünen so zu hören, ist doch ziemlich erstaunlich und veranlasst mich einige Nachfragen zu stellen ohne ihre christliche Überzeugung in Frage stellen wollen.
1.) Halten Sie das Konzept von der multikulturellen Gesellschaft (insbesondere der gleichberechtigten Gültigkeit aller Glaubensrichtungen in der Gesellschaft) für gescheitert? Streben Sie demnach eine Gesellschaft rein auf der Grundlage der christlich-abendländischen Wertvorstellungen an (etwa wie die „Leitkultur“ der C-Parteien)?
2.) Halten Sie die Säkularisierung für eine der Grundlagen eines modernen Staats? Wenn ja, sollte man dann mit seiner Konfession Wahlkampf betreiben und warum?
3.) Wenn christlicher Religionsunterricht „begünstigt“ werden soll, also katholischer und protestantischer; müssen demnach andere Glaubensrichtungen außen vor bleiben. Wie halten Sie diese Position mit dem Grundgesetz für vereinbar, dass alle anerkannten Glaubensgemeinschaften gleich behandelt und wonach diese natürlich auch Religionsunterricht anbieten können? Warum soll jüdischer oder moslemischer Religionsunterricht da zurückstehen?
4.) Wie soll die „Begünstigung“ des christlichen Religionsunterrichts konkret aussehen? In Bayern etwa werden Kruzifixe in die Klassenräume gehängt. In Pankow versucht eine aufgebrachte Bevölkerung den Bau einer Gotteshauses zu verhindern, wo nach deutschem Gesetzen, die Glaubensgemeinschaft jedes Recht dazu hat – Machen Sie doch mal einige kreative Vorschläge dazu!
Sehr geehrter Herr Schmutterer,
vielen Dank für Ihre aufmerksamen Nachfragen, die es mir erlauben ein paar Missverständnisse klar zu stellen.
Warum sollte Spiritualität oder eine bestimmte Religionszugehörigkeit bei den Grünen ungewöhnlich sein? Meinen Sie es etwa, es würde dem Zeitgeist oder Mainstream in einer multikulturellen Metropole widersprechen? Ich denke, bei aller Modernität braucht es auch wertkonservative Standpunkte und eine Verortung jenseits nackter Tatsachen. Als ich 1984 zu den Grünen kam, waren die Christen bei den Grünen eine der tragenden Säulen der Friedensbewegung. Zwar hat sich die geopolitische Situation seit dem drastisch verändert, die Idee des friedlichen (und umweltgerechten) Zusammenlebens der Völker ist jedoch heute so aktuell wie im letzten Jahrtausend.
Wenn ich meine Konfession (ebenso wie mein Geburtsdatum und Mitgliedschaften in Vereinen und meinen Beruf) nenne, entspricht es meinem Verständnis von Offenheit. Als Direktkandidatin werde ich von Menschen gewählt, um deren Stimme ich mit meiner Persönlichkeit werbe, dazu gehört mein Glaubensbekenntnis ebenso wie meine politischen Schwerpunkte.
Ein Bekenntnis zum Christentum bedeutet keine Herabsetzung anderer Glaubensrichtungen, die ich respektiere und die ebenso Platz und Berechtigung in unserer Gesellschaft haben.
Die Grünen stehen seit ihrer Gründung für Toleranz, Offenheit und Selbstbestimmung. Ich habe mich insbesondere dem Natur- und Umweltschutz in einer Partei verschrieben, wo das Bewusstsein herrscht, die Erde von unseren Kindern nur geborgt zu haben (Nachhaltigkeits¬grundsatz). Mein Antrieb ist der tiefe Wunsch die Schöpfung in all ihrer Vielfalt zu bewahren. Man kann dies auch wissenschaftlich ausdrücken und ökologisches Wirtschaften, Verteilungsgerechtigkeit, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und Biodiversität nennen. Weil ich davon überzeugt bin, dass es Sinn macht Verantwortung für unsere Umwelt und die Mitmenschen nach besten Kräften und Gewissen zu übernehmen, engagiere ich mich politisch an exponierter Stelle und mit Enthusiasmus.
1. Die multikulturelle Gesellschaft wird in bereits Berlin gelebt. Auch das macht einen Teil des Charmes unserer Stadt aus. Allerdings müssen Versäumnisse im Integrationsprozess nachgeholt werden. Jahrzehnte lang wurde ignoriert, das Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ein Zuwanderungsgesetz, das Chancen und Rechte auch für Mitmenschen aus anderen Herkunftsländern eröffnet, konnte erst durch eine bündnisgrüne Regierungsbeteiligung auf Bundesebene durchgesetzt werden. Wer die Deutsche Nationalität erwerben will, muss sich allerdings zu den Grundwerten bekennen, die wir in unserer Verfassung als Übereinkunft des Zusammenlebens vereinbart haben. Diese gilt für das gesamte Deutsche Volk, unabhängig vom Geburtsland.
2. Die Säkularisierung ist wie die Gewaltenteilung eine Voraussetzung unsere Demokratie. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist ebenso ein Grundrecht. Es mag Politiker geben, die ihren Wahlkampf rein funktional führen; sympathischer sind mir Volksvertreter, die mit ihrer gesamten Integrität für eine Überzeugung eintreten. Dazu zähle ich mich.
3. Die christlich-abendländische Tradition hat unser Land geprägt. Kulturelle und geistige Leistungen der Vergangenheit wirken bis heute und stiften Identität (Baudenkmale, Kirchentage etc.). In einer marktorientierten Leistungsgesellschaft werden humanistische/ christliche Werte z.T. nicht hinreichend durch die Eltern vermittelt. Der evangelischen und katholischen Religion kommt (auch rein zahlenmäßig) ein besonderer Stellenwert zu. Da diese Religionen Teil unserer Geschichte und Gegenwart sind sollen in den (staatlichen) Schulen diese Kenntnisse besonders angeboten werden. Dass alle jungen Menschen Kenntnisse über verschiedene Religionen und ihre Werte erhalten ist ein zeitgemäßer Ansatz (Ethik), muss aber mit qualifiziertem Lehrpersonal unterrichtet werden!
4. Ein hervorragender Ansatz ist die Öffnung der Schulen zu ihrem Umfeld (Stichwort: Fürs Leben Lernen). Schüler sollten mit ihren Lehrern in die Kieze wirken (Vor-Ort-Projekte entwickeln) und Angebote von außen wahrnehmen können (Konfliktschulung, Tanzprojekte, Musik- + Gartenarbeitsschule), um nur einige der vielfältigen Möglichkeiten anzusprechen. Das geht aber nur bei einer hinreichenden Ausstattung und unter Leitungskräften, die nicht in Bürokratie und Lehrverpflichtungen erstickt werden. Die Verkürzung der Regelschulzeit ist hier kritisch zu betrachten.
Bayerischen und Pankower Eigenarten kann allerdings nur durch lebenslanges Lernen beigekommen werden. Das zu Verbessern bedürfte einer langen und breiten Diskussion zu den Themen Zivilgesellschaft, Minderheitenschutz und Demokratie, die nach dem Wahlkampf weitergeführt werden muss.
Mit freundlichen Grüßen
Sibylle Centgraf