DIE LINKE fordert statt der NATO ein kollektives Sicherheitssystem unter Einbindung Russlands. Ist das auch heute, angesichts des russischen Angriffes auf die Ukraine Ihre Meinung?
Sehr geehrte Frau Dagdelen,
fordern Sie immer noch ein Sicherheitssystem (Militärbündnis?) des Westens mit Russland? Ein Russland, das totalitär ist, Regimegegner und kritische Journalisten einsperrt und töten lässt, fremdes Staatsgebiet (Krim) annektiert und gerade einen Angriffskrieg gegen ein unabhängiges Land wie die Ukraine fährt, was beispiellos in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist? Wollen Sie immer noch mit diesem Russland ein Sicherheitsbündnis eingehen, ohne dass Sie vorher Demokratie, Menschenrechte und friedvolles außenpolitische Handeln von Russland einfordern? Von diesen Forderungen gegenüber Russland hört man nämlich nichts.
Sehr geehrter Joachim F.,
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und, wie sämtliche Kriege, nicht gerechtfertigt. Diplomatie und Interessenausgleich mit Russland deshalb generell auszuschließen, wäre jedoch die grundsätzlich falsche Konsequenz und würde weder der Notwendigkeit einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Ukraine durch Verhandlungen noch den Realitäten in der internationalen Politik gerecht.
Der Krieg in der Ukraine hätte mit großer Wahrscheinlichkeit durch friedlichen Interessenausgleich verhindert werden können. Die kompromisslose Durchsetzung eigener Sicherheitsinteressen auf Kosten anderer, wie sie im Zuge der NATO-Osterweiterung betrieben wurde, ist hingegen offensichtlich gescheitert. Kurzfristig muss es nun im Interesse der Menschen in Ukraine und Russland, in Europa und auf der ganzen Welt, darum gehen, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich durch Diplomatie zu beenden.
Das langfristige Ziel bleibt die Etablierung einer europäischen Sicherheitsordnung jenseits der NATO-Konfrontations- und Hochrüstungspolitik, die Frieden und Stabilität in Europa gewährleistet. Da die geographischen Gegebenheiten nun einmal unveränderbar sind, bedarf es dafür selbstverständlich auch des Ausgleichs und der Verständigung mit Russland.
Mit Blick auf Ihre Behauptung, der Angriff auf die Ukraine sei seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos, möchte ich noch darauf hinweisen, dass das Militärbündnis NATO unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführt hat. Außerdem haben weitere Mitglieder der NATO Angriffskriege geführt – oder tun dies wie die Türkei bis heute, ohne jedwede Konsequenz. Ein Völkerrechtsbruch kann einen anderen Völkerrechtsbruch selbstverständlich nicht rechtfertigen, aber die schäbige und durchsichtige Doppelmoral, diese nur selektiv als solche zu benennen, schadet der eigenen Glaubwürdigkeit. Beispielhaft dafür ist die Weigerung der Bundesregierung, den Irak-Krieg der USA als Völkerrechtsbruch auch noch 19 Jahre nach dem Angriffskrieg zu verurteilen (https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/bundesregierung-will-nicht-sagen-ob-irak-krieg-ein-angriffskrieg-war-li.299085).
Mit freundlichen Grüßen
Sevim Dagdelen