Frage an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von Steffen S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
ich fürchte mich um unsere Demokratie, deren Grundvoraussetzung die Bürgerrechte sind. Folgende Bereiche sorgen mich mit etwa gleichem Gewicht: 1. Der Private als Datensammler (Stichworte: Scoring im Kreditwesen; fehlender Betriebsdatenschutz, "google" sammelt usw.) 2. Der Staat als Datensammler (Stichworte: Biometrie; Vorratsdatenspeicherung usw.)
Das für mich "brennendste" Thema ist aktuell die Vorratsdatenspeicherung. Ja, für schwere Straftaten ist das sicher richtig, für leichte (Beleidigung am Telefon usw.) aber ebenso sicher nicht. Da man aber logisch nicht "für bestimmte Zwecke" speichern kann, ist der einzige Ausweg: gar nicht speichern. Zu diesem Thema meine Fragen:
1. Halten Sie die Aussagen des Generalanwalts Bol für akzeptabel, der meint, Art. 95 EG sei eine hinreichende Grundlage für die Vorratsdatenspeicherung? Ich lehne das ab, weil nicht vollständige Uniformität, sondern die Ausräumung allein der gewichtigen Hindernisse für den Binnenmarkt Ziel der EG ist. Dazu gehört es nicht, dass Unternehmen ggf. unterschiedlich viel für Datenspeicherung investieren müssen.
2. Wenn die (formal argumentierende) Klage Irlands vor dem EuGH scheitert, wie wird sich das BVerfG dann verhalten / müssen? Kann es einfach auf SOLANGE verweisen und eine Prüfung der Speicherung anhand der Grundrechte ablehnen? Wird es die RL dem EuGH vorlegen? Wie wird / sollte es entscheiden, wenn der EuGH auf Vorlage die RL für europarechtskonform hält?
3. Eine etwas andere Frage: "Es äußerst bedenklich, dass kaum jemand weiß, wer diese Daten gerade besitzt. Bedenklich ist es hingegen nicht, dass sich nur eine Minderheit dagegen wehrt. Das ist dramatisch.“ (Götz Hamann, Marcus Rohwetter, DIE ZEIT, 48/2004). Ist diese Passivität nicht das eigentliche Kernproblem, dieser Unwille, für Freiheit zu kämpfen? Ist nicht die Politik ihrerseits gefragt, endlich wieder ein POSITIVES Verhältnis zu den Bürgerrechten zu fördern? Mit welchen Mitteln?
Sehr geehrter Herr Seibold,
vielen Dank für Ihre Email.
Die Vorratsdatenspeicherung leitet einen Paradigmenwechsel im Datenschutz ein. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung soll nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe höchstpersönlicher Daten schützen.
Ich teile daher Ihre grundrechtlichen Bedenken gegenüber der Vorratsdatenspeicherung. Meiner Meinung nach, ist diese Regelung nicht mit den vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil entwickelten Grundsätzen zu vereinbaren. Eine verdachtsunabhängige Speicherung von Kommunikationsdaten und die damit verbundene Erstellung von Bewegungsprofilen aller Bundesbürger kann auch nicht im Interesse eines Rechtstaates liegen.
Darüber hinaus hätte die Bundesregierung zumindest die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs abwarten müssen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat den Gesetzesentwurf zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung daher einstimmig abgelehnt. Ich habe auch, zusammen mit anderen Kollegen, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die Vorratsdatenspeicherung eingelegt.
Mit freundlichen Grüßen
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger