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Richard Pitterle
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Frage von Hartmut Georg M. •

Frage an Richard Pitterle von Hartmut Georg M. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Pitterle,

aus dem Migrationsbericht geht hervor, dass 2015 sage und schreibe 2,14 Mio. Zuwanderer nach Deutschland einwanderten. Siehe diesen Link: http://www.mopo.de/news/politik-wirtschaft/rekordzuwanderung-ueber-zwei-millionen-menschen-sind-2015-nach-deutschland-gezogen-25294996
Halten Sie diese sehr hohe Zahl für angemessen? Aus meiner Sicht sind die Verlierer dieser Entwicklung diejenigen, die schon jetzt nicht aus dem Vollen schöpfen können und mit Zuwanderer um Jobs, (bezahlbaren) Wohnraum, Arzttermine usw. konkurrieren müssen. Sehen Sie das auch so und was tun Sie um Verteilungskämpfe zu verhindern? Mit wie vielen Asylanträgen rechnen Sie für 2016 und wie viele Länder inkl. Arbeitnehmerfreizügigkeitsrecht wollen Sie noch in die EU aufnehmen?

Diese Woche gab es einen Anschlag wahrscheinlich durch diesen Tunesier, siehe Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Anis_Amri
Wie kann es sein, dass jemand aus Tunesien hier Asyl beantragen darf, obwohl Deutsche dort Urlaub machen? Warum verwirken Menschen nicht ihr Asylrecht, die falsche Angaben machen oder ihre Ausweispapiere wegwerfen oder wie in diesem Fall wohl mehrere Identitäten "annahmen"?

Wie Sie anhand dieses Link sehen, können schwangere Hartz IV-Empfängerinnen bis auf 0Euro sanktioniert werden: http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-regierung-fuer-sanktionen-bei-schwangeren-29211.php
Finden Sie das richtig und warum gibt es beim Asylrecht nicht solch drastische Sanktionsmöglichkeiten?

Mit freundlichen Grüßen
H.G.Mayer

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Mayer,

haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage, auf die ich gerne antworten möchte:

Zunächst: Der Zahl der Eingewanderten muss natürlich die Zahl der Ausgewanderten gegenübergestellt werden, wie es auch in dem von Ihnen zitierten Artikel geschieht: Da 2015 zugleich etwa 1 Mio. Menschen Deutschland verlassen haben, bleibt es unter dem Strich bei einem Einwanderungssaldo in Höhe von etwa 1,14 Mio. Menschen.
Aber es stimmt: Die Zahl der Menschen, die im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen sind, war sehr groß. Das ist vor allem der Ankunft von knapp 890.000 Asylsuchenden geschuldet. Die Aufnahme und der Schutz von Flüchtlingen ist eine völkerrechtliche und humanitäre Verpflichtung, die die Bundesrepublik Deutschland erfüllen muss - und kann. Es handelt sich bei den Asylsuchenden überwiegend um schutzbedürftige Flüchtlinge, etwa aus Syrien, dem Irak, Afghanistan. Die Anerkennungsquote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei inhaltlichen Asylentscheiden liegt aktuell auf einem Rekord-Hoch: Etwa drei Viertel der Asylsuchenden erhalten derzeit einen Schutzstatus (vgl. Bundestagsdrucksache 18/10575, Frage 1b).
Die Zahl der Asylsuchenden ist im Jahr 2016 bereits drastisch zurückgegangen, insgesamt waren es gut 300.000 neue Asylsuchende, wobei alleine die Hälfte von ihnen im Januar und Februar 2016 kam, seitdem sind es ca. 15.000 pro Monat (die Zahl der neu gekommenen Geflüchteten ergibt sich aus der so genannten EASY-Statistik, die allerdings leicht überhöhte Werte anzeigt; die Zahl der Asylanträge liegt in diesem Jahr weitaus höher, weil viele der Asylsuchenden, die 2015 eingereist sind, erst jetzt einen Asylantrag stellen konnten).

Wie viele Menschen im Rahmen der EU-Freizügigkeitsregelungen nach Deutschland kommen, ist national nicht steuerbar. Unter bestimmten Voraussetzungen haben alle EU-Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht auf Aufenthalt und Erwerbstätigkeit in anderen EU-Mitgliedstaaten. Auch deutsche Staatsangehörige machen von diesem Recht umfangreich Gebrauch. Die EU-Freizügigkeit ist eine für die Menschen ganz konkret nutz- und erlebbare positive Errungenschaft der EU. Die Bundesrepublik profitiert von den EU-Freizügigkeitsregelungen wirtschaftlich, und es ist nachvollziehbar, dass Menschen aus den aktuellen Krisenländern in der EU auf der Suche nach Arbeit und Einkommen verstärkt nach Deutschland kommen. DIE LINKE. kritisiert, dass es auf der EU-Ebene keine wirksame Beschäftigungs- und Sozialpolitik gibt, und dass die neoliberale Kürzungspolitik der EU viele Bewohnerinnen und Bewohner in Mitgliedstaaten wie etwa Griechenland in Arbeitslosigkeit, Verarmung und zum Teil auch unfreiwillige Migration getrieben hat.

Volkswirtschaftlich betrachtet stellt all dies für die Bundesrepublik keine Bedrohung dar, wie die makroökonomischen Daten zeigen: Trotz der Rekord-Einwanderung sinkt die registrierte Arbeitslosigkeit, steigt die Beschäftigung, macht der Bund keine Schulden - dass DIE LINKE. diese oberflächliche Bilanz überaus kritisch sieht und auf eine versteckte Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unterlassene öffentliche Investitionen und eine ungerechte Reichtumsverteilung in Deutschland hinweist usw., muss ich an dieser Stelle nicht ausführen.

Die Frage, die Sie vor allem umtreibt, ist natürlich, wie die Aufnahme der Geflüchteten in Deutschland konkret organisiert und ausgestaltet wird. Auch diesbezüglich hat DIE LINKE. erhebliche Kritik an der Politik der Bundesregierung. Hier gab es viele Fehler und Versäumnisse, etwa bei der unzureichenden Personalausstattung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Bundesregierung hat vor allem auf Gesetzesverschärfungen im Asylbereich gesetzt, statt die sich ergebenden Herausforderungen ganz praktisch zu meistern. Die sozialen Probleme, die Sie ansprechen, im Bereich des sozialen Wohnungsbaus, der medizinischen Versorgungen, der Beschäftigung usw., gibt es in Deutschland jedenfalls schon lange - lange bevor Flüchtlinge in einer größeren Zahl nach Deutschland kamen! Die Geflüchteten sind nicht die Ursache für diese sozialen Probleme. Sie haben diese aber zum Teil deutlich sichtbar werden lassen, etwa die Mängel beim sozialen Wohnungsbau. DIE LINKE. hat deshalb die Ankunft der Flüchtlinge zum Anlass genommen, insbesondere ihre sozialpolitischen Forderungen verstärkt und erneut einzubringen. Wir treten für eine solidarische, soziale Politik ein, die im Interesse aller Menschen in Deutschland ist. So wird auch verhindert, dass sozial ohnehin ausgegrenzte Menschen zu "Verlierern der Entwicklung" werden, wie Sie schreiben. Wir lehnen eine Politik, die auf Ausgrenzung setzt, ab und wollen verhindern, dass verschiedene Bevölkerungsteile gegeneinander ausgespielt werden.

Im Übrigen hat die Aufnahme der Geflüchteten auch zur Schaffung von zehntausenden Arbeitsplätzen beigetragen (etwa im Bereich der Verwaltung, in Schulen, bei Sprachkursen, in der Baubranche usw.). Da das wenige Geld, das Asylsuchende erhalten (weniger als Hartz IV), unmittelbar für den Lebensunterhalt (Ernährung, Kleidung) ausgegeben wird, fördert dies indirekt auch die Konjunktur. Viele Studien gehen davon aus, dass bei einer guten Integration der Geflüchteten der wirtschaftliche Nutzen für die Aufnahmegesellschaft bereits auf mittelfristige Sicht positiv sein wird.

DIE LINKE. fordert, diese Aufgabe einer gelingenden Integrationspolitik mit einer sozialen Offensive für alle zu verbinden. Ich möchte Sie auf einen entsprechenden Antrag meiner Fraktion hinweisen, der umfangreiche Ausführungen hierzu enthält (BT-Drs. 18/9190).

Richtig ist, dass der tunesische Attentäter von Berlin auch einen Asylantrag gestellt hat. Dieser wurde aber nach kurzer Prüfung abgelehnt, gerade weil Anis Amri über seine Identität und Herkunft getäuscht hat und keine Schutzbedürftigkeit glaubhaft machen konnte. Das Asylrecht ist aus guten Gründen ein Grundrecht, auch die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet alle Staaten der Welt, Verfolgten Schutz zu gewähren. Es ist die Aufgabe der Asylbehörden, in individuellen Verfahren zu prüfen, ob Asylsuchende Schutz bedürfen oder nicht. Es stimmt auch, dass die Anerkennungsquoten in Bezug auf Tunesien sehr niedrig sind. Allerdings ist es nicht so, dass es in Tunesien keine politische Verfolgung gibt, nur weil Tunesien auch ein Urlaubsland ist. Im dritten Quartal 2016 beispielsweise hat das BAMF zwei tunesischen Asylbewerbern den Status nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt, zwei weitere erhielten andere Schutzstatus (vgl. BT-Drs. 18/10575, Frage 1). Das sind nicht viele Fälle, aber dies verbietet, alle tunesischen Asylsuchenden unterschiedslos ohne individuelle Prüfung abzuweisen und sie damit im Zweifelsfall der Verfolgung auszuliefern. Die schnelle Ablehnung des Asylantrags von Anis Amri zeigt, dass das geltende Recht eine schnelle Asylprüfung und Entscheidung prinzipiell ermöglicht. Die Probleme lagen im konkreten Fall eher woanders, insbesondere in Fehlern bei der Informationsübermittlung, aber auf die Details der aktuellen Aufarbeitung des Berliner Anschlags kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen - und hoffe, Sie haben hierfür Verständnis.

Wichtig ist mir: Flüchtlinge sind nicht mit Terroristen gleichzusetzen - im Gegenteil: Flüchtlinge sind im Regelfall die ersten Opfer des Terrors. Sie fliehen vor der terroristischen Gewalt, etwa des IS im Irak und in Syrien, und mussten alles aufgeben, was sie bislang besaßen, haben häufig nicht nur ihre Arbeit, ihr Haus und ihren Wohlstand, sondern auch geliebt Verwandte verloren. Wenn einzelne Terroristen sich als Asylsuchende ausgegeben haben, bedeutet dies nicht, dass alle Asylsuchenden verdächtig sind: Wenn hier geborene und aufgewachsene Deutsche einen Terrorakt oder Morde begehen (vgl. z.B. die NSU-Mordserie, das Münchner Oktoberfest-Attentat), bedeutet das ja auch nicht, dass alle Deutschen verdächtig sind.

Wie Sie vermutlich wissen, lehnt DIE LINKE. die drakonischen Sanktionsregelungen im Hartz IV-System, auf die Sie zu Recht hinweisen, kategorisch ab. Ihre Frage unterstellt, dass solche Kürzungsregelungen für Asylsuchende nicht gelten würden. Das ist falsch. Geflüchtete unterliegen, wenn sie als Flüchtlinge anerkannt wurden, den gleichen Sanktionsregelungen des SGB II wie alle anderen Menschen auch. Solange ihr Asylverfahren noch läuft, gilt für sie als Asylsuchende nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eine deutliche Kürzung der Regelleistungen gegenüber dem üblichen Hartz IV-Satz, zudem gibt es mehr als ein Dutzend Kürzungsregelungen im Asylbewerberleistungsgesetz, die weitere drastische Einschränkungen des menschenwürdigen Existenzminimums vorsehen.
Ungerechte und unwürdige Kürzungsregelungen beim Existenzminimum sollten für niemanden gelten. Die aktuellen Hartz IV-Sätze sind ohnehin zu gering bemessen, für die noch geringeren Leistungen für Asylsuchende gilt dies umso mehr.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen auf Ihre Fragen nachvollziehbare und anregende Antworten geben und bedanke mich für Ihr Interesse.