Frage an Richard Pitterle von Robert V. bezüglich Finanzen
Sehr geehrter Herr Pitterle,
Sie sind Mitglied im Finanzausschuss. Mein Frage ist komplex aber sehr spannend und ich hoffe auf eine baldige Antwort von Ihnen.
Die seit Jahren in Medien und Politik präsente Diskussion zur Staatsverschuldung arbeitet häufig mit dem vorwurfsvollen Argument, diese Generation würde unzulässig hohe Staatsschulden an die nächste Generation "vererben". Man würde "auf Kosten der nächsten Generation leben". Geht das?
Dieses Argument suggeriert, als habe der Staat, also die gesamte Gesellschaft seine/ihre Schulden bei irgendeiner "äußeren Macht", die die nächste dann völlig überschuldete Generation dann quasi pfänden, ausquetschen o. ä. würde. Hier wird offenbar auch mit "Angst" gearbeitet, um politische Vorstellungen durchzusetzen. Aber wo Schuldner sind, sind stets auch Gläubiger! Und da offenbar fast alle westlichen Staaten (die der dritten Welt sowieso) hoch verschuldet sind, sind offenbar große Institutionen (z. B. Banken und Versicherungen, die wiederum irgendjemandem (z. B. Aktionären) gehören!) und die Bürger selbst die Gläubiger.
Das heißt aber auch, dass "wir" (die Gesellschaft) der nächsten Generation nicht nur Schulden, sondern auch Forderungen "vererben". Man könnte auch sagen, wir vererben eine Verteilung vermeintlicher Guthaben und Schulden. Ich schreibe vermeintlich, weil ich mich auch ernsthaft frage, ob dieses Geld überhaupt existiert, jemals existiert hat. Letztlich sprechen wir von Versprechungen, von mit Tinte bedrucktem Papier. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will das Thema nicht lächerlich machen. Aber wurde vor 20 Jahren noch über Millionen gesprochen, gehts jetzt nicht mehr unter zig Millarden. Das wird langsam alles sehr unglaubwürdig und absurd.
Ist es also richtig, dass wir eigentlich gar keine Schulden weitergeben (weil das eine verkürzte Darstellung ist), sondern nur eine fiktive Verteilung von Forderungen? Haben Sie darüber eigentlich schon mal nachgedacht?
Mit besten Grüssen
Robert V.
Sehr geehrter Herr Veltmann,
vielen Dank für Ihre interessante Anfrage vom 10.09. zum Thema Vererben von Staatsschulden. Sie fragen, ob man wirklich Staatsschulden auf die nächste Generation vererbe, bzw. ob der Staat bzw. die Gesellschaft nicht sich selbst, also den Bürgerinnen und Bürgern, schulde.
Meiner Ansicht nach ist die Aussage, dass Staatsverschuldung eine negative Vermögensübertragung auf zukünftige Generationen sei, falsch. Sie verwechselt Hauswirtschaftslehre mit Makroökonomie. Öffentliche Verschuldung ist ein Mechanismus mit dem hauptsächlich Vermögen von normalen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern auf Shareholder (also Aktionäre, Anteilseigner und Gesellschafter) übertragen wird.
Auf der Grundlage des wirtschaftswissenschaftlichen Glaubens (selten überprüft), dass niedrige Steuern Wirtschaftswachstum stimulieren und schlussendlich Staatseinnahmen vergrößern, haben europäische Staaten seit den 1980er Jahren US-amerikanische Finanzpolitik imitiert. Steuern und Sozialabgaben wurden gesenkt, so z.B. die Steuern auf die Gewinne der Unternehmen, auf das Einkommen der am Wohlhabendsten, auf Immobilien sowie die Beiträge der Arbeitgeber. Auch in Deutschland ist dieses Denken weiterhin vorherrschend: Die Unternehmenssteuern (Körperschaftsteuer) lag im Jahr 2008 bei 25 Prozent, heute liegt sie bei 15 Prozent. Der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer war bis 1999 bei 53 Prozent, heute liegt er bei 42 Prozent. Die Vermögensteuer wird seit 1997 nicht mehr erhoben. Folglich hat diese Art von Steuerpolitik insgesamt eine Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und der öffentlichen Defizite bewirkt.
Diese Steuerpolitik hat die Staaten bzw. die Regierungen dazu gezwungen, von wohlhabenden Haushalten und von Finanzmärkten Kredite aufzunehmen um die so erzeugten Defizite zu finanzieren. Dies kann man auch als den „Hauptgewinn-Effekt“ bezeichnen: Mit dem Geld aus den Steuern, die die Wohlhabenden gespart haben, konnten sie (zinsbringende) Sicherheiten bzw. Wertpapiere der Staaten erwerben, die ausgegeben wurden, um die öffentlichen Schulden, die durch die Steuersenkungen verursacht wurden, zu finanzieren.
Die öffentliche Verschuldung in Europa und den USA ist nicht aufgrund expansiver keynesianischer Politik (Belebung der Wirtschaft durch vermehrte Staatsausgaben), oder teurer Sozialpolitik angestiegen. Der Anstieg ist vielmehr das Ergebnis einer Politik zu Gunsten der privilegierten Schichten: „Steueraufwendungen“ (gesenkte Steuern und Beiträge) vergrößern das verfügbare Einkommen derjenigen, die es am wenigsten brauchen. Sie können infolge dessen ihre Investitionen in Bundesschatzbriefe noch erhöhen. Diese Bundeschatzbriefe werden dann - mit Zinsen - vom Staat mit den Steuereinnahmen, die von allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern kommen, zurückgezahlt. Insgesamt wurde also ein Mechanismus der Umverteilung von unten nach oben errichtet, von den unteren zu den oberen Gesellschaftsschichten, über öffentliche Verschuldung, deren Gegenstück immer private Rendite ist.
Mit freundlichen Grüßen,
Richard Pitterle