Frage an Priska Hinz von Lucas T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Hinz,
in der Schule im Fach Politik und Wirtschaft behandeln wir gerade den Aufbau des deutschen Demokratiesystems und betrachten auch anhand von Beispielen die Entstehung von Gesetzen, insbesondere deren Weg durch Bundestag und Bundesrat.
Dabei gewann ich immer mehr den Eindruck, dass das Abstimmungsverhalten von Fraktionen in diesen beiden Gremien sehr stark von taktischem Geplänkel zwischen den Parteien beziehungsweise Opposition und Regierungskoalition geprägt ist und weniger von sachlichen Überlegungen zum Thema selbst. Als Beispiel möchte ich hier die Entscheidung über das Zuwanderungsgesetz 2002 nennen, die damalige Situation sollte ja hinreichend bekannt sein. Auch der faktisch herrschende Fraktionszwang bei Abstimmungen behindert, so scheint es mir zumindest, eine unabhängige Entscheidungsfindung einzelner Abgeordneter, wie sie im Grundgesetz eigentlich vorgesehen ist.
Dies lässt bei mir Zweifel aufkommen, ob das System der parlamentarischen Demokratie in seiner jetzigen Form dem ursprünglichen Gedanken noch gerecht wird und vor allem, ob der eigentliche Zweck, nämlich das Bestmögliche für den Bürger, und ich sage jetzt bewusst nicht Wähler, zu erreichen, überhaupt noch im Vordergrund steht oder nicht viel eher durch den Gedanken an die nächste Wahl immer wieder in den Hintergrund treten muss.
Wie stehen Sie als Abgeordnete dazu? Fühlen Sie sich vom Kalkül mit Wählerstimmen in der Ausführung des Ihnen als Vertreterin des Volkes gegebenen Auftrages beeinträchtigt? Inwiefern würden Sie sagen, dass eine Revision des Grundgesetzes für einen besseren, direkteren Transport der Bürgerinteressen nötig ist? Oder liegen die meiner Meinung nach recht offensichtlich zutage tretenden Probleme an der Mentalität der Parteien?
Mit freundlichen Grüßen,
Lucas Treffenstädt
Sehr geehrter Herr Treffenstädt,
ich bin einerseits als Bundestagsabgeordnete von den Bürgerinnen und Bürgern meines Wahlkreises aber eben auch als Grüne für die programmatischen Aussagen meiner Partei gewählt worden, die ich im Parlament - so gut es geht - vertrete. Natürlich kommt es dabei - wie in jeder Fraktion - zu unterschiedlichen Auslegungen und Meinungen über das Programm. Außerdem gibt es auch während der Wahlperiode neue Entwicklungen, zu denen man eine eigenständige Position finden muss.
Dennoch halte ich es für wichtig, als Fraktion auch gemeinsam und mit übereinstimmenden Positionen aufzutreten. Es geht also weniger um einen Fraktions“zwang“ als eher darum, sich um eine gemeinsame Fraktions“meinung“ zu bemühen, die dann auch im Parlament, bei Abstimmungen und in der Öffentlichkeit vertreten wird. Andernfalls wäre es für die Bürgerinnen und Bürger kaum mehr erkennbar, welche Partei nun wofür steht.
Gerade die Grünen machen es sich mit ihrer Meinungsbildung oft nicht leicht. Inhaltliche Diskussionen und auch ein handfester Streit über unsere Positionen werden meist öffentlich ausgetragen, um am Ende solcher oft auch ermüdenden Auseinandersetzungen doch noch zu einer gemeinsamen Haltung zu finden. Dennoch gibt es, insbesondere bei ethischen Fragen, auch Debatten, bei denen das Abstimmungsverhalten ausdrücklich freigestellt wird oder sich Abgeordnete der überwiegenden Fraktionsmeinung nicht anschließen. Dies ist zum Beispiel bei Themen der Fall wie Stammzellforschung, Spätabtreibung, aber auch beim Streit über die deutsche Beteiligung an Militäreinsätzen.
In Regierungskoalitionen sind Kompromissbildungen natürlich noch wichtiger. Und die wesentliche Spielregel der Parlamentarischen Demokratie ist nun einmal, Mehrheitsmeinungen zu akzeptieren. Diese Regel bedeutet eben auch Stabilität im politischen Handeln - unabdingbar für eine Regierung. Aber auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen, von der Schülervertretung bis zum Betriebsrat gibt es diese Formen der Meinungsbildung in der Gruppe. Daraus folgen in der Regel Mehrheitsbeschlüsse, die dann entsprechend nach außen oder gegenüber Schulleitungen bzw. Arbeitgebern vertreten werden. Im Falle der Politik sind es die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, die sich allerdings auch manchmal gravierend von der "Regierungsmeinung" unterscheiden. Aus diesem Grund gibt es ja auch unterschiedliche Parteien, damit sich die Bandbreite dieser Anliegen auch in der politischen Landschaft wiederfindet.
All diesen Gremien, von der Schülervertretung bis zur Bundesregierung, sollte es dabei dennoch wichtig sein, die Probleme und Anliegen all ihrer Mitglieder - also letztlich auch die Minderheiteninteressen und -meinungen - zu berücksichtigen, weil sie sich sonst langfristig ihre eigene Grundlage entziehen.
Herzliche Grüße
Priska Hinz