Frage an Philipp Tacer von Tom J. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Tacer,
in der Online-Ausgabe des SPIEGEL fand ich am 05.09. folgenden Beitrag: http://www.spiegel.de/wirtschaft/wolfgang-muenchau-ueber-die-wirtschaftspolitik-der-spd-a-920348.html
Es geht in der Streitschrift darum, dass der Autor meint, die SPD müsse auf ein konsequenteres Wirtschaftsmodell umschwenken. Mir drängt sich in diesem Zusammenhang die bisweilen geäußerte Behauptung auf, dass es in Wirklichkeit keine Prozentzahl für die Bemessung der Gefahr einer Staatsverschuldung gebe. Dieser so um die 90% des BSP liegende Parameter sei schlicht ein Rechenfehler.
Neben den Sofortmaßnahmen Ihrer Partei in den ersten 100 Tagen nach der Wahl ist es meines Erachtens daher von ganz enormer Bedeutung, ob es einen derartigen Gradmesser für drastische Maßnahmen gegen eine Staatsverschuldung gibt. Auf ihm beruht, wenn ich es richtig verstehe, das fortlaufende Spargebot insbesondere in den südlichen EU-Ländern. Ist die Grundaussage falsch, muss wohl die gesamte „Rettungspolitik“ neu gedacht werden. Können Sie dem zustimmen?
Ich bin mir des Umstandes bewusst, dass meine Frage nicht mit wenigen Worten beantwortet werden kann, es sei denn, sie antworteten mit „ja“.
Ihre Antwort darf daher durchaus ein paar Tage auf sich warten lassen, zumal es neben mir ja auch andere Interessierte gibt, die sich ernsthaft um eine Grundlage für ihre Wahlentscheidung bemühen.
Mit freundlichen Grüßen,
Tom Jülich
Sehr geehrter Herr Jülich,
besten Dank für Ihre Anfrage.
Aus meiner Sicht ist die SPD die Partei in Deutschland, die auf dem Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowohl eine kluge Analyse der Wirtschaftskrise vorgenommen hat als auch programmatisch die adäquaten Konsequenzen aus der Krise zieht. Ich persönlich befasse mich intensiv und gerne mit den makroökonomischen Fragen unserer Zeit und plädiere dafür, dass wir wirtschaftspolitisch wieder zwischen BWL und VWL unterscheiden: Nicht alles, was für sehr wenige (z. B. Banker, die spekulieren) profitabel ist, ist auch volkswirtschaftlich klug. Letztlich gefährden Handlungen von einzelnen Spekulanten und Finanzmarktakteuren ganze Volkswirtschaften und die Unternehmen. Dies muss ein Ende haben, und dies funktioniert nur mit einer klaren ökonomischen Analyse der Krise und einer Wirtschaftspolitik, die aus der Krise gelernt hat.
Wir schlagen daher eine Regulierung des Banken- und Finanzmarktsektors vor, damit Banken wieder "langweilig" werden, und sich auf das konzentrieren, was ihre Aufgabe ist: Die Finanzierung von guten Ideen von Unternehmen und Selbstständigen sowie die Verwaltung der Einlagen von Sparern. Dies ist vor und während der Krise zunehmend nicht mehr der Fall gewesen. Wir müssen uns ferner die Handelsbilanzüberschüsse der deutschen Volkswirtschaft anschauen und erkennen, dass eine stärkere Kaufkraft und Binnenachfrage in Deutschland ein zentraler Baustein für den Abbau von ökonomischen Ungleichgewichten in Europa wäre. Das heißt konkret: Die niedrigen Löhne in Deutschland und die Weigerung von CDU/FDP, einen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn einzuführen und die Situation von prekär beschäftigten Arbeitnehmern in Deutschland zu verbessern, verletzt nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland, sondern ist auch volkswirtschaftlich fahrlässig und unklug. Ich beziehe mich hier u. a. auf die Studien und Analysen von Prof. Gustav Horn und Prof. Heiner Flasbeck. In diesem Sinne würde ich auf Ihre Frage antworten, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise kausal keine Staatsschuldenkrise ist, sondern eine Handelsbilanzkrise ist und viel mit Fehlanreizen im Bankensektor und im einseitigen wirtschaftspolitischen Gesamtdiskurs der letzten 15 Jahre zu tun hat. Gleichwohl müssen auch die von der Krise negativ betroffenen südeuropäischen Staaten an ihrer Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit arbeiten und ein effektives Steuersystem implementieren, dass große Vermögen und Einkommen auch zur Finanzierung der Staatsausgaben heranzieht. Die Reduzierung der Staatsverschuldung in Deutschland und Europa halte ich für ein legitimes und erreichbares Ziel, insbesondere dann, wenn durch eine kluge und gerechte Steuerpolitik die Finanzierung öffentlicher Zukunftsinvestitionen sichergestellt wird.
Beste Grüße
Ihr
Philipp Tacer