Frage an Petra Heß von Helga M. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Heß,
kürzlich wurden über 1000 Soldaten für den Afghanistaneinsatz in Thüringen verabschiedet. Im Fernsehen wurden Sie befragt zum Problem der Traumatisierung von nicht wenigen Afghanistanheimkehreren.
Kann es sein, daß die sensiblen und anständigen Soldaten leichter traumatisiert werden als andere?
Kann es sein, daß diese betroffenen Menschen begriffen haben, daß der Krieg dort ungerecht gegenüber der Bevölkerung ist ?
Alle guten Kenner des Landes Afghanistan sagen, daß wir raus müssen aus diesem Land. Der ehemals gute Ruf, den Deutschland bei den Afghanen hatte, ist verspielt.Das Land ist nicht sicherer geworden, der Mohnanbau war nie so groß wie jetzt und die Taliban sind sehr stark geworden.
Warum beteiligt sich mein Land weiter an diesem völkerrechtswidrigen Krieg?
Sehr geehrte Frau Müller,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Der internationale Einsatz in Afghanistan steht im Einklang mit dem Völkerrecht und zwar nach den Resolutionen Nr. 1386, 1413, 1444, 1510, 1623, 1659 und 1707 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Diese stellen die *rechtlichen Grundlagen* für den ISAF-Einsatz dar.
Deutschland hat im Verlauf des Einsatzes die Verantwortung für den Norden Afghanistans übernommen. Die hier von Deutschland geleistete Aufbauarbeit ist vielfach bereits erfolgreich und auch die Menschen spüren diese Fortschritte und sind dankbar dafür. Denn Afghanistan war spätestens seit der Machtübernahme der Taliban ein Staat ohne staatliches Gewaltmonopol, ein gefallener Staat.
Die Willkürherrschaft der Taliban bedeutete aber nicht nur Terror und Schrecken für die Afghanen selbst – besonders die brutale Unterdrückung von Frauen kennzeichnete die Herrschaft der Taliban – sondern auch, dass das Land zu einem Unterschlupf für Terroristen wurde. Afghanistan ließ Terroristen untertauchen und ausbilden. Diese Terroristen wurden anschließend „als Gotteskrieger“ auf ihre tödlichen Missionen in alle Welt geschickt, auch nach Europa und in unser Land. Wenn Afghanistan also Terroristen Unterschlupf gewährt oder radikalisierte Islamisten dort zu Attentätern ausgebildet werden, dann berührt das die Sicherheit der gesamten westlichen Welt und natürlich auch die Sicherheit Deutschlands.
Es war daher richtig und notwendig, die Talibanherrschaft in Afghanistan zu beenden, und es war richtig, mit dem Wiederaufbau des von Bürgerkriegen und Gewaltherrschaft zermürbten Landes zu beginnen, damit die Taliban sich dort nicht erneut etablieren und die wieder errichtete staatliche Ordnung erneut gefährden können. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus muss nämlich in erster Linie verhindert werden, dass in Ländern wie Afghanistan ein Machtvakuum entsteht.
Und um das zu verhindern, müssen in Afghanistan nicht nur staatliche Strukturen wieder geschaffen, sondern vor allem mit Leben gefüllt werden. Und es muss eine Polizei und Armee aufgebaut werden, die diese neue Ordnung verteidigen und schützen kann. Dabei muss die staatliche Macht über die Hauptstadt Kabul hinaus auch in den verschiedenen Provinzen durchgesetzt und das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen gestärkt werden.
Ich persönlich kann vor diesem Hintergrund nur schwer verstehen, wie intensiv und hartnäckig das weitere militärische Engagement der Bundeswehr immer wieder infrage gestellt wird. Wenn wir den Kampf gegen den Terrorismus erfolgreich führen wollen, müssen wir ihm den Nährboden entziehen. Das funktioniert aber nur, wenn wir eine funktionierende staatliche Ordnung in Afghanistan errichten. Dafür ist ISAF in Afghanistan, um Sicherheit und Ordnung während des Wiederaufbauprozesses zu garantieren. ISAF leistet so lange Unterstützung gegen die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, die heute erneut wieder von der Taliban ausgeht, bis Afghanistan in der Lage ist, selbst für Sicherheit und Ordnung zu sorgen.
Und damit komme ich nun zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.
Seit nunmehr über sieben Jahren leistet die Bundeswehr einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in Afghanistan. Dabei hat sich das Aufgabenspektrum der Bundeswehr in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert. Mittlerweile hat die Bundeswehr die Verantwortung für die gesamte Nordregion und seit dem 1. Juli 2008 von den Norwegern auch die Aufgaben der Quick Reaction Force übernommen. Für den gesamten Norden gilt, dass jetzt zusätzliche Anstrengungen notwendig sind, um das bereits Erreichte abzusichern und den neuen Herausforderungen zu begegnen. War es nämlich noch vor drei Jahren verhältnismäßig ruhig im Norden, verschlechtert sich auch hier die Sicherheitslage ständig. Ein Aspekt, der auch aufgrund des vielerorts ja durchaus erfolgreichen zivilen Wiederaufbaus (besonders im Norden!) gerne verdrängt oder beiseite geschoben wird. Aber der Einsatz der Bundeswehr ist eben kein Einsatz der Entwicklungshilfe, sondern in erster Linie ein militärischer. Die Bundeswehr sichert den zivilen Wiederaufbau militärisch ab und ohne diesen militärischen Schutzschirm würde keine zivile Organisation dort Wiederaufbau leisten.
Die zunehmende Gefährdung und die Erweiterung des Aufgabenspektrums führten in letzter Zeit dazu, dass die vom Mandat gesetzte Obergrenze von 3500 Soldaten permanent ausgeschöpft wurde. Das deutsche Kontingent musste permanent am Limit operieren, was unweigerlich auch zu einer Reduzierung der Betreuung der Soldaten im Einsatz führen musste. Die Obergrenze wurde mit der Verlängerung des Mandats im Herbst 2008 auf 4500 erhöht, um der Bundeswehr bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, aber auch in den Zeiten des Kontingentwechsels die notwendige Flexibilität zu geben. Dies heißt nicht notwendigerweise, dass die neue Obergrenze sofort ausgeschöpft werden wird, es bedeutet aber, dass nicht mehr wie in der Vergangenheit ständig an den verkehrten Stellen (z. B. bei der Betreuung) Kräfte eingespart werden müssen.
Nach nunmehr zwei Aufenthalten in Afghanistan, die mich nach Kabul, Kunduz und Marzar-e Sharif geführt haben, muss ich Ihnen ganz offen sagen:
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wird nicht heute und nicht morgen beendet werden können – wir brauchen einen langen Atem in Afghanistan.
Aber es gibt ermutigende Fakten in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit,
Bildung, und Wirtschaft:
1. Beim Aufbau der afghanischen Polizei und Armee zeichnen sich erste
Erfolge ab.
In Kabul sind die afghanische Polizei und Armee mittlerweile so weit fortgeschritten in ihrer Ausbildung, dass sie die Kontrolle über die Hauptstadt demnächst in eigene Hände nehmen können. Auch in anderen Provinzen machen der Aufbau und die Schulung von Polizei und Armee große Fortschritte. Die afghanische Armee unterstützt bereits jetzt wirksam verschiedene Operationen gegen die Taliban überall im Land.
2. Im ganzen Land wurde eine medizinische Basisversorgung wieder errichtet, so dass heute mindestens 80% der afghanischen Bevölkerung von einer gesundheitlichen Basisversorgung profitieren, während es unter der Talibanherrschaft nur einer winzigen Minderheit von unter 10% möglich war, in den Genuss medizinischer Versorgung zu kommen.
3. Besonders für Frauen wurden enorme Fortschritte erzielt: War es 2003 nur 5% der schwangeren Frauen möglich, an regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen, lag diese Zahl 2007 bereits bei 71%.
4. Und auch der Aufbau eines funktionierenden Bildungswesens wird weiter massiv vorangebracht. Die Schulen wurden überall im Land wieder eröffnet und ein Großteil der Jungen und ein ermutigender Anteil von immerhin 40% der Mädchen besuchen regelmäßig die Schule. Auch die Universitäten stehen Männern und Frauen gleichermaßen offen, dabei stellen Frauen im Augenblick 25% der Studierenden.
5. Auch die Polizei beschäftigt in Afghanistan Frauen und der Anteil der Lehrerinnen, der jetzt immerhin schon bei 25% liegt, wird ebenfalls in den nächsten Jahren kontinuierlich wachsen. Damit treten Frauen erstmals seit der Talibanherrschaft überhaupt wieder öffentlich in Erscheinung und werden allein schon aufgrund dieser Tatsache die afghanische Gesellschaft mit gestalten und prägen können.
6. Der Aufbau der Infrastruktur, der quasi bei Null beginnen musste, hat in den Bereichen Elektrifizierung, Wasserversorgung und Straßenbau, um nur einige wichtige Infrastrukturmaßnahmen zu nennen, ebenfalls in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Auch hier hat die Bundeswehr vielfach vor Ort mitgeholfen und die Errichtung von Wasserpumpen und Bewässerungsanlagen unterstützt und begleitet. So konnte in den letzten Jahren die Versorgung von 4 Mio. Menschen mit sauberem Trinkwasser realisiert werden. Seit November 2002 sind darüber hinaus zwei Wasserkraftwerke von Deutschland wieder in Betrieb gestellt worden.
Überall im Land werden Straßen wieder befahrbar gemacht, von Minen geräumt und teilweise sogar asphaltiert.
Hier zahlt sich der deutsche zivil-militärische Ansatz besonders aus: Denn erst durch die Verbesserung der Infrastruktur wird in Afghanistan auch ein dauerhafter wirtschaftlicher Aufschwung möglich. Und erst der wirtschaftliche Aufschwung wird die Lebensverhältnisse der Afghanen nachhaltig verbessern und sie in Zukunft von internationaler Unterstützung unabhängiger machen.
Besonders aber muss das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in das Funktionieren der staatlichen Strukturen gestärkt werden, denn nur wenn die Afghanen selbst ein Mehr an Sicherheit und Wohlstand erleben, werden sie auch Vertrauen in ihren Staat entwickeln und ihn letztlich unterstützen.
Abschließend möchte ich gerne mit ein paar Mythen, die sich um das ernste Thema der Posttraumatischen Belastungsstörungen ranken, aufräumen und diese durch gesicherte Fakten ersetzen:
Es ist richtig, dass der Afghanistan-Einsatz Soldatinnen und Soldaten zunehmend psychisch belastet und dass es vermehrt zu so genannten Posttraumatischen Belastungsstörungen bei den Soldatinnen und Soldaten kommt. Der Prozentsatz ist im Vergleich mit anderen Nationen zwar noch verhältnismäßig gering, aber die Bundesregierung nimmt die steigende Zahl der Erkrankungen sehr ernst und arbeitet nicht nur an der Erforschung und Behandlung dieser Krankheit, sondern auch an ihrer Entstigmatisierung. Es wird demnächst ein Traumazentrum errichtet werden, dass sich der intensiven Erforschung dieser Krankheit widmet und auch die Fortbildung des medizinischen Einsatzpersonals sowie die Einsatzvorbereitung insgesamt wird stärker auf diese Problematik zugeschnitten.
Demnächst wird testweise auch ein computergestütztes Vorbereitungsprogramm namens „Charly“ eingeführt werden, mit dem sich die Soldaten auf den Umgang mit psychischem Stress im Einsatz vorbereiten können. Es ist trotz aller Prävention nicht vorhersagbar oder vorhersehbar, welche Soldaten es treffen wird, es gibt keine wissenschaftlich greifbare Disposition für Posttraumatische Belastungsstörungen. Generell gilt nur: Je eher sie erkannt wird, bzw. je eher ein Soldat von sich aus Hilfe sucht, umso größer sind seine Heilungschancen. Daher ist es so wichtig, diese Erkrankung endlich von dem Stigma des Versagens oder der Schwäche zu befreien.
Abschließend ist es mir erneut ein persönliches Anliegen noch einmal zu betonen, dass keinesfalls der Umkehrschluss ihrer Frage gelten darf: Wer nicht traumatisiert zurückkommt, dem fehle womöglich die nötige Sensibilität. Ich habe mich während mehrerer Besuche in Afghanistan davon überzeugen können, mit welch enormen Einfühlungsvermögen, mit welch hoher interkultureller Kompetenz und mit welch großem Können und Engagement unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in Afghanistan versehen. Ich würde mir im Gegenteil endlich die gebührende Anerkennung und Unterstützung aus der Bevölkerung wünschen.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Petra Heß