Frage an Peter Wichtel von Detlev B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Wichtel,
der Bundestag hat vor Monaten mit großer Mehrheit dem Lissabon-Vertrag zugestimmt, ohne daß die Bevölkerung hierzu befragt wurde. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte kaum keinerlei Bedenken. Zitat von der Homepage des Auswärtigen Amtes: Das Bundesverfassungsgericht hatte am 30. Juni 2009 entschieden, dass der Vertrag von Lissabon mit der deutschen Verfassung vereinbar ist. Die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat mussten aber noch gestärkt werden. Dazu wurde das so genannte "Begleitgesetz" neu gefasst. Am 8. September wurde das Gesetz in 2. und 3. Lesung vom Deutschen Bundestag beschlossen. Der Bundesrat stimmte am 18. September dem Gesetz zu. Durch das Grundgesetz wird die Unversehrtheit auf Leben garantiert, d.h. in Deutschland wie auch in vielen anderen europäischen Ländern wurde z.B. die Todesstrafe abgeschafft. Wie kann es aber sein, daß im Lissabon-Vertrag vorgesehen ist, z.B. bei Aufständen innerhalb des EU-Gebietes, die Todesstrafe wieder einführen zu können ? Warum wurde dem Lissabon-Vertrag zugestimmt, obwohl dieser scheinbar doch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist ? Oder ist man der Meinung gewesen, daß solche Fälle niemals eintreten und hat es somit einfach mal akzeptiert ? Oder wurde vielleicht von den Abgeordneten das "Kleingedruckte" nicht gelesen ? Ferner garantiert das Grundgesetz das Recht auf Widerstand (Widerstandsparagraph). Kann es etwa sein, daß die EU damit das Recht auf Widerstand bewußt einschränken kann, damit ein deutscher Staatsbürger, der der Meinung ist, die Demokratie sei in Gefahr, keine Handlungsmöglichkeit hat bzw. der Widerstand extremst erschwert wird ? Ist es außerdem zutreffend, daß es eine spezielle, europaweite Eingreiftruppe gibt, die dann eingesetzt wird, um drohende Aufstände (Widerstand ?) niederzuschlagen ?
Mit freundlichen Grüßen
Detlev Bock
Sehr geehrter Herr Bock,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage bezüglich des Lissabon-Vertrages, die mich über die Seite abgeordnetenwatch.de erreicht hat. Ich begrüße Ihr Interesse an europapolitischen Fragen und werde im Folgenden gerne auf die Thematik eingehen.
Der Vertrag von Lissabon modernisiert die Institutionen der Europäischen Union und optimiert deren Arbeitsmethoden. Unterzeichnet am 13. Dezember 2007 und in Kraft getreten am 01. Dezember 2009 kann die EU mit dem völkerrechtlichen Vertrag die zahlreichen gegenwärtigen Herausforderungen effizient und wirkungsvoll angehen. Trotz einer bisher überaus positiven Debatte über die Ratifizierung ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Missverständnissen gekommen, die einzelne Inhalte des Vertrages betreffen. Die von Ihnen angeführten Bedenken bezüglich einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe sind ein Beispiel hierfür. Lassen Sie mich klärend auf den Sachverhalt eingehen.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die zwar nicht Teil des Lissabon-Vertrages ist, aber durch ihn rechtskräftig wurde, beinhaltet in Artikel 2, Absatz 2 den Passus, dass niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden dürfe. Diese Aussage ist ebenso eindeutig wie verbindlich. Um die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der EU besser verstehen und interpretieren zu können, sind hierzu vertiefende Erläuterungen aufgesetzt worden. Diese Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die im Übrigen keinen rechtlichen Status haben und nicht verbindlich sind, legen das Verbot der Todesstrafe im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus. Die EMRK erlaubt in ihrem 6. Zusatzprotokoll vom 28. April 1983 unter anderem die Todesstrafe im Kriegszustand und eine Tötung zur Niederschlagung eines Aufruhrs.
Allerdings haben die große Mehrheit der EU-Mitgliedsländer, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, im Mai 2002 bereits das 13. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert, welches die Todesstrafe explizit verbietet. Sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten. Da die Charta der Grundrechte der EU einen durch andere gültige Rechtstexte - wie die Verfassungen von Mitgliedsländern oder internationale Übereinkommen wie die EMRK - bereits bestehenden Grundrechtsschutz nicht verringern kann, ist das 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention in dieser Frage hinfällig. Es greifen das 13. Zusatzprotokoll der EMRK und Artikel 2, Absatz 2 der Charta, die eine Todesstrafe ausdrücklich verbieten.
Ihre Bedenken bezüglich einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe kann ich dementsprechend vorbehaltlos entkräften. Der Lissabon-Vertrag ist nicht nur mit dem Grundgesetz vereinbar, er kollidiert auch nicht mit dem Widerstandsrecht der Bundesrepublik Deutschland.
Zur weiterführenden Lektüre empfehle ich Ihnen gerne die Webseiten der Europäischen Union, die überaus aufschlussreiche Informationen - auch zum Vertrag von Lissabon - bieten. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihr Interesse an der aktuellen Europapolitik hier weiter vertiefen könnten.
Seien Sie herzlich aus Berlin gegrüßt
Peter Wichtel