Frage an Patrick Döring von Le-Roy G. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Döring,
ich stelle mir seit einiger Zeit die Frage, welche Partei wohl am besten meine Interessen vertreten könnte. Dabei habe ich mich auch mit der wirtschaftlichen Ausrichtung ihrer Partei beschäftigt und bin an der Frage hängen geblieben, wie ein liberalistischer Kurs in der sozialen Marktwirtschaft realisierbar sein kann. Denn dann würden ja Eingriffe ins Marktgeschehen so gut wie ausbleiben oder auf ein Minimum reduziert werden und man würde dem Markt mit seinen Ordnungsprinzipien sich selbst überlassen. Man mag dem zu Gute halten, dass dann das Individuum über unbegrenzte Möglichkeiten der Verbesserung seiner Lage verfügen würde, aber dazu müsste es auch komplette Chancengleichheit sowie gleiche Rahmenbedingungen geben, was ja offensichtlich nicht der Fall ist. Hingegen wird bei rein liberalistischer Ausrichtung, meiner Meinung nach, die soziale Sicherung und des Ausgleichs auf der Strecke bleiben. Das wäre ja kaum mit der sozialen Marktwirtschaft vereinbar.
Ich würde einfach gerne wissen, wie liberalistisch sich die FDP die Wirtschaft vorstellt und, ob Sie finden, dass es zu ,,Konflikten´´ mit den Grundsätzen der soz. Marktwirtschaft kommen kann??
Danke!
Sehr geehrter Herr Gräff,
vielen Dank für ihre Frage – die zugegeben nicht ganz einfach zu beantworten. Schließlich ist gerade der Liberalismus alles andere als eine monolithische Ideologie, sondern vertritt ja gerade die Überzeugung, dass der Wettbewerb der Ideen die besten Ergebnisse bringt. Dementsprechend diskussionsfreudig sind gerade Liberale, wenn es darum geht, wie liberale Politik im allgemeinen und liberale Wirtschaftspolitik im besonderen auszusehen hat.
Grundsätzlich besteht in der FDP allerdings ein breiter Konsens, dass wir uns der Idee der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, die in ihren Grundlagen ein Produkt des deutschen Ordoliberalismus ist – und sich klar von dem „Vulgär-Liberalismus“ (Alexander Rüstow) abgrenzt. Die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft – Walter Eucken, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack und andere - sahen die Ursache für die Weltwirtschaftskrise und die folgende Depression als eine Folge der Absolutheit, mit der die Maxime „laissez faire, laissez passer“ des frühen Wirtschaftsliberalismus bis Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurde. Sie beobachteten richtigerweise, dass die Voraussetzung für eine funktionierende Marktwirtschaft – nämlich ein offener Wettbewerb – sich nicht aus eigener Kraft erhalten konnte, weil die Unternehmen selbst gar kein Interesse daran hatten, sondern versuchten durch Kartelle und Monopole die Konkurrenz auszuschalten.
Die ordoliberalen Denker verweigerten sich jedoch der seinerzeit populären Annahme, dass der Liberalismus am Ende sei und die Zukunft totalitären Ideologien wie Faschismus und Kommunismus gehöre. Stattdessen beschrieben sie einen dritten Weg zwischen einem enthemmtem Kapitalismus und sozialistischer Planwirtschaft.
Der Staat solle, so schrieb zum Beispiel Walter Eucken später, eine funktionsfähige Gesamtordnung garantieren, in der ein fairer Leistungswettbewerb herrsche, an dem alle zu den grundsätzlichen gleichen Bedingungen teilnehmen könnten: „Wie die Betriebe produzieren, welche Technik sie anwenden, welche Rohstoffe sie kaufen, auf welchen Märkten sie verkaufen, ist frei. […] Aber es besteht nicht die Freiheit, die Spielregeln oder die Formen, in denen sich der Wirtschaftsprozess abwickelt, die Marktformen und Geldsysteme, nach Willkür zu gestalten.“ Der Staat sollte nicht selbst als Akteur innerhalb des Wirtschaftssystems auftreten, sondern den freien und fairen Wettbewerb gewährleisten – Wirtschaftspolitik in Euckens Sinne war eine Politik der Ordnung und nicht der aktivistischen Intervention.
Die von Müller-Armack, Rüstow, Eucken und anderen formulierten ordnungspolitischen Prinzipien haben die Politik Ludwig Erhards und damit die Entstehung und Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Krieg maßgeblich beeinflusst. Dank einer konsequenten Ordnungspolitik hat die Bundesrepublik einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt – und damit einen nie gesehenen gesellschaftlichen Wohlstand. Zugleich wuchsen die Chancen auf soziale Teilhabe für Jedermann.
Diese zentrale Erfahrung der Nachkriegsjahre ist jedoch zusehends in Vergessenheit geraten. Dabei wäre eine Rückbesinnung auf die Grundsätze des Ordoliberalismus in unseren Tage dringend geboten. Denn die Welt befindet sich im Wandel. Neue Technologien schaffen neue Märkte und neue Herausforderungen. Auch die Bekämpfung des Klimawandels und der Umgang des demographischen Wandels sind für unsere Gesellschaft gleichermaßen Chance und Herausforderung. Das 21. Jahrhundert wird absehbar einen Aufstieg der Schwellenländer – China, Indien, Brasilien – und damit eine neue Multipolarität erleben.
Während die Schwellenländer, allen voran die Volksrepublik China, jedoch in das 21. Jahrhundert mit einer ungeheuren Dynamik eingetreten sind, kämpft Deutschland – wie viele Länder des Westens – mit Selbstzweifeln und Selbstblockaden. Die Funktions- und Zukunftsfähigkeit unserer politischen und wirtschaftlichen Systeme wird zusehends in Frage gestellt. Nur noch 48 Prozent der Bundesbürger sind der Meinung, die deutsche Wirtschaftsordnung habe sich bewährt. Mit dem politischen System Deutschlands waren im November 2010 nur noch gut die Hälfte der Befragten zufrieden.
Diese Krise des Vertrauens in Demokratie und Soziale Marktwirtschaft hat ihre Ursache in erster Linie darin, dass die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgehöhlt wurden. Dass die Entscheidung über wirtschaftlichen und sozialen Erfolg viel zu oft nicht mehr von individueller Leistung abhängt, sondern von politischen Entscheidungen, ist nicht nur für Liberale ein unerträglicher Zustand. Auch mit Sozialer Marktwirtschaft hat diese Entwicklung wenig zu tun. Auf die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte passt vielmehr die Kritik Walter Euckens an der „experimentierenden Wirtschaftspolitik“ der zwanziger und dreißiger Jahre: „Es wurde der Versuch gemacht, die mangelnde private Investitionstätigkeit durch staatliche Investitionen zu ersetzen; aber es wurde nicht versucht, die Fehler der Lenkungsmechanik, also die Ursache der meisten Disproportionalitäten zu beseitigen.“ Anstatt die Ursachen wirtschaftlicher Krisen zu beseitigen, wurden durch staatliche Subventionen und Interventionen vor allem die Symptome geheilt.
Kurz: Die eherne Regel, dass der Staat sich aus Wirtschaftsfragen heraushalten und sich auf die Setzung klarer ordnungspolitischer Rahmenbedingungen konzentrieren solle, wird schon seit Jahren verletzt – erst durch Rainer Brüderle wird diesem Grundsatz jetzt wieder Geltung verschafft.
Während der Staat sich auf der anderen Seiten immer stärker in die Märkte und individuelle Lebensentscheidungen einmischte, vernachlässigte er seine Kernaufgaben: Seit Jahrzehnten gab und gibt es massive Defizite bei der Setzung ordnungspolitischer Rahmenbedingungen. Auch wenn die christlich-liberale Koalition hier zum Beispiel durch das Restrukturierungsgesetz erste Maßnahmen ergriffen hat, um Probleme im Bankenbereich zu beheben – über Jahrzehnte entstandene ordnungsrechtliche Fehlentwicklungen beispielsweise bei der Schaffung von Wettbewerbsmärkten (etwa im Energiemarkt oder im Schienenverkehr), bei der Wahrnehmung staatlicher Kontrollaufgaben oder in Fragen der Haftung sind nicht in ein paar Monaten zu beseitigen; zumal unter den Bedingungen der Globalisierung es oftmals keine einfache nationalstaatliche Lösung mehr gibt.
Man nehme als Beispiel die massiven Haftungsdefizite unserer derzeitigen Wirtschaftsordnung. Die einfache Grundregel „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“, ist für Ordoliberale zurecht eine der tragenden Säulen des freien Spiels der Kräfte. Das Prinzip der Haftung funktioniert jedoch, wie in der Finanzkrise zu beobachten, in Deutschland und weltweit nur unzureichend. Und auch international droht das Haftungsprinzip außer Kraft gesetzt zu werden. Die Diskussion um die Schaffung und Weiterentwicklung des Schutzschirmes für den Euro-Raum zeigt, wie leicht in der EU das Prinzip der Haftung ausgehebelt werden könnte. Mit ihrer klaren Haltung zur Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und der Forderung nach einer Beteiligung der Gläubiger hat die Bundesregierung in Europa jedenfalls keinen leichten Stand.
Diese Haftungsprobleme sind im nationalen Alleingang kaum zu lösen. Die Zwänge der Globalisierung können jedoch keine Entschuldigung sein, der Forderung nach einer Rückbesinnung auf die Prinzipien der Ordnungspolitik auszuweichen – sondern müssen im Gegenteil Ansporn sein, nach neuen Lösungen zu suchen.
In zahlreichen anderen Politikfeldern gibt es außerdem mehr als genug Spielraum für eine Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft. Man denke etwa an die Reform unserer Sozialsysteme, die Schaffung von Wettbewerbsmärkten oder staatliche Subventionspolitik. Ein schönes Beispiel ist auch das deutsche Bau- und Planungsrecht, das sich – geleitet von besten Absichten – zu einer wahren Hydra entwickelt hat. Deutsches Recht geht heute oft weit über die hohen Standards der Europäischen Union hinaus. Spielräume für flexible Lösungen, die im Rahmen der europäischen Vorgaben möglich sind, werden nicht oder nur unzureichend genutzt. Hinzu kommen langwierige juristische Verfahren bei Widersprüchen und Klagen gegen ein Vorhaben. Eine Vereinfachung der Verfahren und der Abbau von Bürokratie würde staatliche und private Projekte gleichermaßen beschleunigen – den Bau neuer Industrie- und Forschungseinrichtungen genauso wie den Ausbau regenerativer Energien und des Schienennetzes. Dadurch könnten Investitionen in Milliardenhöhe vorgezogen und zusätzliche Wachstumsimpulse erzeugt werden. Nach dem starken Einbruch bei privaten Bauinvestitionen im vergangenen Jahr wäre das ein wichtiges Signal.
Eine ordnungspolitische Erneuerung braucht es jedoch nicht nur für die deutsche Sozial- und Wirtschaftspolitik im weiteren Sinne, sondern auch für das Verständnis und Organisation des Staates. Die Konzentration auf staatliche Kernfunktionen und die finanzielle wie organisatorische Stärkung der Kommunen durch eine Gemeindefinanzreform wären wichtige Schritte, um dem Subsidiaritätsprinzip wieder stärker Geltung zu verschaffen: Dass eine übergeordnete staatliche Ebene nur dann helfend (subsidiär) eingreift, wenn die Aufgabe ohne diese Hilfe nicht zu bewältigen wäre.
Eine besondere Chance bieten dabei die vor allem durch das Internet wachsenden Informations- und Partizipationsmöglichkeiten für den einzelnen Bürger. In der Debatte um Stuttgart 21 haben wir symptomatisch erlebt, wie groß Interesse und Mobilisierungspotential sowohl auf Seiten der Gegner und Befürworter politischer Entscheidungen sein können. Dass in unserer gegenwärtigen Verfasstheit diese Mobilisierung auf ein scheinbares Gegeneinander von Staat und Bürgern hinausläuft, ist auch für eine liberale Ordnungspolitik eine Herausforderung: Auf der einen Seiten müssen wir ein mehr an Bürgerbeteiligung möglich machen. Denn Information und Beteiligung ist kein Recht, das der Staat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprinzip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Auf der anderen Seite müssen wir jedoch Rahmenbedingungen setzen, um zu gewährleisten, dass überregionale Gemeinwohlinteressen nicht nur lokale Entscheidungen beeinträchtigt werden. Auch hier geht es in einem weiteren Sinne um Fragen der Ordnungspolitik.
Die Vielzahl und Breite der hier nur angerissenen Themen zeigt bereits, dass es nicht einfach ist, die Politik wieder auf einen Kurs zurückzuführen, der den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft entspricht. Vermachtete Systeme sind nur schwer und teils unter Inkaufnahme größter Verwerfungen zu reformieren. Allerdings ist in dieser Hinsicht die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise vielleicht auch eine Chance: Der Druck zur Konsolidierung der Haushalte führt auch dazu, dass wir unsere Probleme nicht mehr alleine dadurch lösen können, indem wir sie mit Millionen und Milliarden übertünchen. Soziale und wirtschaftliche Schieflagen lassen sich in Zukunft nicht mehr alleine durch Alimentierung und Subvention verdrängen. Stattdessen werden wir den Probleme auf den Grund gehen müssen. Das ist eine Herausforderung für uns Liberale. Wir haben heute die Chance, den Kurs zu ändern und die Politik Deutschland wieder auf die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft und die Prinzipien des Ordoliberalismus zurückzuführen. Deutschland braucht eine neue Ordnungspolitik, wenn wir die Chancen des 21. Jahrhundert nutzen und den Veränderungen in der Welt erfolgreich begegnen wollen. Und dafür braucht Deutschland die Liberalen – denn das ist ausweislich ihres Programms das Ziel der FDP. Hier haben wir seit Beginn unserer Regierungstätigkeit allerdings noch zu wenig geleistet.
Die FDP ist zur Bundestagswahl angetreten mit dem Anspruch, die Soziale Marktwirtschaft zu erneuern – und das war und ist mehr, als die Forderung nach Steuersenkungen. Der Koalitionsvertrag trägt hier eine erkennbare liberale Handschrift: mehr Wettbewerb und Transparenz im Energiebereich und bei der Bahn, eine echte Reform der Mehrwertsteuer, eine Neuordnung der Gemeindefinanzen, eine umfangreiche Reform der Finanzaufsicht, eine stärkere Haftung von Managern. All dies und viel mehr steht im Koalitionsvertrag – aber nach 18 Monaten Regierungstätigkeit noch immer nicht im Gesetzblatt.
Die Forderung nach einer Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ist heute aber genau so richtig wie vor der Bundestagswahl. Wenn wir den Aufschwung stärken, Arbeitsplätze schaffen und den Haushalt konsolidieren wollen, müssen wir dazu auch die politischen Rahmenbedingungen schaffen. Dafür brauchen wir eine Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft. Dafür brauchen wir unser liberales Programm. Und für dieses Programm hat die FDP ein Mandat von über sechs Millionen Wählerinnen und Wählern erhalten. Bei diesen Menschen stehen wir im Wort – und wir sollten daran gehen, dies jetzt umfassend einzulösen. Das ist der Anspruch, den wir Liberale an uns selbst haben sollten – dafür werbe ich.
Mit freundlichen Grüßen,
Patrick Döring MdB