Frage an Patrick Döring von Michael C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter MdB Döring,
Ich möchte gerne erfahren, warum die Beschlüsse und Abstimmungen im Bundestag nicht eine 100%ige Anwesendheitspflicht erfordert. Denn mir ist aufgefallen, dass die meisten Entscheidungen mit einer knappen Mehrheit beschlossen worden sind. Allein die Kernkraftwerk-Laufzeitverlängerung wurde mit 309 zu 280 Stimmen entschieden, was bei mir großen Zweifel an der Glaubwürdigkeit auslöst. Wer suggeriert mir, dass diese nicht anwesenden Abgeordneten willentlich ferngeblieben sind (Mir ist bewusst, dass dieses eine freche Anschuldigung ist, aber ich bin ein Freund der Hyperbel)?
Daher frage ich mich trotz der gewünschten Transparenz, ob es nicht besser wäre wenn die Abgeordneten anonym abstimmen würden, so dass sie keinerlei Konsequenzen aus den eigenen Reihen befürchten müssen. Wie können Sie mir glaubwürdig versichern, dass hier die Interessen der Abgeordneten und nicht die der Parteien verfolgt wird?
Ohne, dass Sie diese Frage jetzt beantworten, gehe ich ein Gedankenspiel durch: Selbst wenn es so wäre, dass die Abgeordneten lediglich die Interessen der eigenen Partei vertreten und mit Sanktionen zu rechnen haben, falls sie wider Willen abstimmen, wie können Sie mir dann eine ehrliche Antwort geben? Schließlich wird Ihre Partei sicherlich überprüfen, welche Inhalte und Informationen an die Öffentlichkeit weitergereicht werden. Sicherlich werden Sie hier nicht frei antworten, sondern müssen Ihre Äußerungen von einer "Prüfstelle" genehmigen lassen, um Ihrer Partei keinen Schaden zu zufügen.
Bitte sehen Sie diese Mutmaßungen nicht als einen Angriff auf Sie persönlich, sondern als sehr gut durchdachte Fragestellung. Ich werde Ihre Antwort in keinster Weise gegen Sie verwenden, falls Sie ehrlich antworten sollten. Ansonsten können Sie sich auch telefonisch bei mir melden.
Mit freundlichen Grüßen,
Michael Czechowski
Sehr geehrter Herr Czechowski,
vielen Dank für ihre Frage.
In der Tat ist es richtig, dass Abgeordnete sich immer in einem Spannungsfeld bewegen. Auf der einen Seite ist man frei gewählter Abgeordneter – auf der anderen Seite ist man als Mitglied einer Partei, Fraktion und Koalition aber auch in Loyalitätsstrukturen eingebunden.
Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass wir dieses Spannungsfeld auflösen können, indem wir beispielsweise geheime Abstimmungen im Bundestag einführen. Denn auch wenn der Abgeordnete nach dem Grundgesetz nur seinem Gewissen verpflichtet ist: Seine Wähler haben natürlich einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie er sich in einer konkreten Situation politisch verhalten und wie er in einer für sie wichtigen Frage am Ende abgestimmt hat. Die Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, ob die von gewählten Abgeordneten sich in ihrem Sinne verhalten haben. Dies wäre nicht mehr gewährleistet, wenn im Bundestag geheim abgestimmt würde. Ich möchte an dieser Stelle auch dem pauschalen Eindruck entgegen treten, dass die Abgeordneten des Bundestages immer streng nach der Parteilinie abstimmen würden. Im Gegenteil, bei zahlreichen wichtigen Entscheidungen gibt es auch immer eine größere Zahl an Abgeordneten (sowohl in den Oppositions- als auch in den Regierungsfraktionen), die anders abstimmen, als die Mehrheit ihrer Fraktion. Auch habe ich persönlich es noch nie erlebt, dass von Seiten der Fraktionsführung der FDP direkter Druck auf Abgeordnete ausgeübt worden wäre, sich in einem bestimmten Sinne zu verhalten.
Natürlich gibt es in der internen Diskussion in den Sitzungen unserer Fraktionen eindringliche Appelle in der Sache – aber eine „Erpressung“ von Abgeordneten, wie sie manchmal insinuiert wird, findet nicht statt. Im Gegenteil ist es im Grundsatz eher so, dass die Partei- und Fraktionsführung sich stark darum bemüht, bei Entscheidungen, die bei einer großen Zahl von Abgeordneten kritisch gesehen wird (bspw. vor der Abstimmung über den Rettungsschirm für Griechenland und den Euro) die Bedenken der Abgeordneten soweit wie irgend möglich aufzunehmen. Seinerzeit führte dies unter anderem zur Ausarbeitung eines umfassenden Entschließungsantrags, in dem bereits die politischen Leitlinien für eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes definiert wurden – mit der klaren Zielsetzung, eine Wiederholung dieser Ereignisse in Zukunft zu vermeiden. Auf der Grundlage dieses von den Abgeordneten beschlossenen Antrages verhandelt die Bundesregierung, im übrigen sehr erfolgreich, derzeit die Neuordnung des Euro-Raumes.
In der konkreten Entscheidungssituation muss dann der einzelne Abgeordnete für sich entscheiden, ob er die Linie der Fraktion im Grundsatz für richtig hält und ob seine Einwände hinreichend berücksichtigt sind, um z.B. einem Gesetzesvorschlag zuzustimmen – aber auch, ob er die politischen Folgen verantworten kann, die eine Abweichung von der Mehrheitsmeinung seiner Fraktion am Ende bedeuten würde.
Denn eine eventuelle Niederlage der Regierungsfraktionen bei einer Abstimmung ist in Deutschland nahezu gleichbedeutend mit einer Regierungskrise. Auch solche Folgen muss man bei seinem Handeln in Erwägung ziehen. Zu Zeiten der Großen Koalition gab es deshalb auch immer eine größere Zahl an Abgeordneten, die in ihrem Stimmverhalten von der jeweiligen Fraktionslinie abwichen, weil angesichts der überwältigenden Mehrheit von CDU/CSU und SPD im Bundestag das Risiko viel geringer war, dass es am Ende zu einer Abstimmungsniederlage für die Regierung kam. Die politischen Risiken, die mit einer unabhängigen Stimmentscheidung verbunden waren, fielen damals geringer aus als heute, da wir im Bundestag eine vergleichsweise deutlich kleinere Mehrheit haben.
Solche Faktoren tragen natürlich dazu bei, dass Abstimmungsverhalten von Abgeordneten zu beeinflussen. Und das ist auch richtig – denn selbst wenn man im Einzelfall mit einem Gesetzentwurf nicht in jeder Hinsicht einverstanden ist, muss man natürlich schon überlegen, ob man im Zweifelsfall dafür bereit ist, die eigene Regierung in eine Krise zu stürzen, obwohl man deren Handeln insgesamt entschieden befürwortet und unterstützt.
Wie Sie sehen, betrachte ich die Frage nach der Unabhängigkeit von Abgeordneten etwas differenzierter. Wir haben als Mandatsträger viele Möglichkeiten, uns einzubringen und Entscheidungen auch zu beeinflussen. Und viele Abgeordnete machen von ihrem Recht der freien Abstimmung auch Gebrauch.
Gleichwohl würde allerdings auch ich mir wünschen, dass Abgeordnete – sowohl nach Außen wie nach Innen – gelegentlich mit mehr Selbstbewusstsein und Entschlossenheit auftreten. Die Mitglieder des Bundestages repräsentieren das deutsche Volk, der Bundestag ist das höchste Verfassungsorgan dieser Republik. Diesen Anspruch müssen wir auch gegenüber der Regierung haben. Das Parlament kontrolliert die Regierung – nicht umgekehrt.
Dieses Selbstverständnis hat in den letzten Jahrzehnten nach meinem Empfinden gelitten. Das Problem lässt sich allerdings, so denke ich, nicht dadurch lösen, dass wir einfach die Abstimmungsmodalitäten ändern (und zum Beispiel durch geheime Abstimmung die Abgeordneten faktisch von der politischen Verantwortung für ihr Verhalten befreien). Eine präzise Antwort, wie wir die Stellung und das Selbstbewusstsein des Parlamentes in Deutschland wieder stärken können, kann ich Ihnen allerdings auch nicht geben, denn die Ursachen dieses Problems sind extrem vielfältig. Die Auswahlmechanismen unseres politischen Systems spielen dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie die Fixierung von Öffentlichkeit, Medien und Politik auf die Exekutive (und die latente Geringschätzung der Legislative). Aber diese Probleme und Ursachen zu benennen ist leider deutlich einfacher, als sie zu beheben – vor allem dort, wo es am Ende um festgefügte Einstellungen und Meinungsbilder in den Köpfen der Menschen geht, die man nicht einfach per Gesetz sondern nur durch langfristige Überzeugungsarbeit ändern kann.
Mit freundlichen Grüßen,
Patrick Döring MdB