Frage an Omid Nouripour von Patrick S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Nouripour,
Sie haben, so entnahm ich einer Antwort auf eine Anfrage, dem Vertrag von Lissabon zugestimmt, weil er institutionelle Verbesserungen gegenüber dem Nizza-Vertrag aufweist.
Würden Sie also behaupten, die EU ist (nach) dem Inkrafttreten des Lissabonvertrages eine Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung, in der der Bürger weiss, wer hier für was verantwortlich ist und in der die Macht vom Souverän, dem Volk, ausgeht?
Step by step auf dem Weg zu einer vollen Demokratie funktioniert meiner Meinung nach nicht, weil die EU durch diesen Vertrag die Kompetenz-Kompetenz bei vielen Themen an sich zieht und nationale Parlamente oder unser Bundesverfassungsgericht schlicht nichts mehr zu sagen haben. Ob die Demokratisierung dann weiter vorangetrieben wird, hängt dann vom Goodwill der EU-Bürokratie ab.
Ich befürchte, durch den Lissabonvertrag wird das gerade erst 60 Jahre gewordene GG ausgeschaltet.
Können Sie meine Ängste diesbezüglich zerstreuen?
Sehr geehrter Herr Steinhäuser,
vielen Dank für Ihre Frage. Der Text des Vertrages von Lissabon ist ein Kompromiss, der aus meiner Sicht einerseits durchaus problematische Passagen enthält (Stichworte sind beispielsweise Aufrüstung und Euratom), aber andererseits dringend benötigte neue Gestaltungsspielräume schafft. Er macht aus der EU keine Europäische Demokratie, erfüllt jedoch wichtige Forderungen, die zu einer Demokratisierung der EU beitragen: die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich, das Europäische Parlament erhält mehr Rechte und der Europäische Rat stimmt häufiger mit Mehrheit ab. Daher habe ich dem Ratifizierungsgesetz im Bundestag zugestimmt.
Ihr Bedenken, dass das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht leichtfertig ausgeschaltet würden, kann ich tatsächlich entkräften: derzeit prüft das Bundesverfassungsgericht die Verträglichkeit des Lissabon-Vertrages mit dem Grundgesetz. Die erste Anhörung zum Thema hat gezeigt, dass das Gericht -wie nicht anders zu erwarten- die Prüfung sehr intensiv und kritisch durchführt. Das Urteil, mit dem bald zu rechnen ist, wird dann zeigen, ob und welche Risiken der EU-Vertrag ggf. enthält.
Mit freundlichen Grüßen!
Omid Nouripour