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Olaf Scholz
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Frage von Erich G. •

Frage an Olaf Scholz von Erich G. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Scholz,

sehr aufmerksam habe ich Ihren Ausführungen bezüglich sinkender Arbeitslosenzahlen bei gleichzeitigem Ansteigen der Alg II-Bezieher anlässlich der Veranstaltung mit Herrn Riester im Monsun-Theater in Hamburg-Altona gelauscht.

Die derzeitige Tendenz, angemessen bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abzubauen und durch Aktiv -und Minijobs, sonstige prekäre Arbeitsverhältnisse und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit aufstockendem Alg II zu ersetzen, erklärt einerseits diese beim ersten Blick widersinnige Entwicklung und funktioniert die ARGEN zu Transformatoren von der sozialen in die freie Marktwirtschaft um.

Außerdem gefährdet diese Tendenz die von Ihnen gepriesenen sozialen Standards der Bismarckschen Sozialgestzgebung im Kern.

Nicht von ungefähr hat in diesem Zusammenhang Herr Senator Uldall von den einschneidensten Veränderungen seit Bismarck gesprochen.
Herr von Beust wurde anlässlich eines Vortrages vorm Überseeklub noch deutlicher. Man habe es nicht mit einem Systemumbau sondern einem Systemwechsel zu tun

Was für Möglichkeiten sehen Sie als Sozialdemokrat, dieser Entwicklung entgegen zu wirken?

Mit freundlichen Grüssen
E. Gengerke

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Gengerke,

vielen Dank für Ihre Frage.

Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht sein kann, dass immer mehr Menschen in Vollzeit arbeiten und von dem daraus erzielten Einkommen nicht leben können. Obwohl die Arbeitslosigkeit sinkt, steigt in manchen Regionen die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften, die ergänzendes Arbeitslosengeld II beziehen. Es kann nicht sein, dass der Staat die niedrigen Löhne in einigen Branchen unterstützt. Deshalb fordert die SPD einen gesetzlichen Mindestlohn.

Bisher haben wir mit unserem Koalitionspartner darüber noch keine Einigung herstellen können. Allerdings haben wir mit der Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf weitere Branchen und der Neufassung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes zwei wichtige Vorhaben auf dem Weg zu einem gesetzlichen Mindestlohn fest vereinbart.

Ich bin mir daher ganz sicher, dass wir schon bald auch in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn haben werden. Das hilft nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sondern auch ganz vielen Unternehmern, die gute Löhne für gute Arbeit zahlen und die wegen der Konkurrenz durch einige Unternehmen, die nur Dumpinglöhne bezahlen, in Schwierigkeiten geraten sind.

Gerne möchte ich Ihre Frage zu einem anscheinend vom Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg und seinem Wirtschaftssenator geforderten Systemwechsel in den Sozialversicherungen ausführlich beantworten.

Entgegen der modernen Klage über die Pfadabhängigkeit des deutschen Weges, soziale Sicherheit über Sozialversicherungen herzustellen, halte ich einen Pfadwechsel, weg von einer über Sozialversicherungen gewährleisteten sozialen Sicherheit hin zu einem vollständig steuerfinanzierten Sozialstaat, für nicht wünschenswert. Die aus Beiträgen finanzierten Leistungen der deutschen Sozialversicherung übersteigen den Umfang des Bundeshaushaltes um ein Vielfaches. Wollte man das heutige Sicherungsniveau aus Steuermitteln finanzieren, müssten wir die beim Bundesstaat ankommenden Steuern um ein Vielfaches steigern. Es ist politisch nicht wahrscheinlich, dass das gelingt. Aber genauso ist es auch nicht wahrscheinlich, dass man die Zustimmung zu der Alternative bekommt, nämlich einem steuerfinanzierten Niveau, das aber eine dramatisch geringere Absicherung gewährleistet als heute über Beiträge. Ich vermute übrigens, dass darauf die Vorschläge aus CDU und FDP abzielen, die unter dem Stichwort "Systemwechsel" die Ausgaben für den Sozialstaat drastisch kürzen oder ihn teilweise sogar ganz abschaffen wollen.

Steuerfinanziert sind ganz unterschiedliche Sozialstaaten, der britische genauso wie die verschiedenen skandinavischen Sozialstaaten. Das Absicherungsniveau, die Belastung aus Steuern und Sozialbeträgen der Unternehmen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist in diesen Ländern völlig unterschiedlich. Insofern ist es zwar eine verführerische, aber völlig verfehlte Diskussion, zu meinen, dass aus der Beantwortung dieser Frage wirklich etwas langfristig Erhebliches für die Zukunft des einen oder anderen Landes folgt. Man darf und muss natürlich über die Erhöhung steuerlicher Mittel in der Sozialversicherung diskutieren, aber man darf eben angesichts der riesigen Mengen, um die es geht, sich nicht eine vollständige Finanzierung vorstellen.

Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass die SPD mit der Agenda 2010 den Sozialstaat gerettet hat. Das ist eine im Nachhinein unübersehbare Leistung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Seine Agenda 2010 wurde dämonisiert und glorifiziert. Sie wurde auch überschätzt. Das gilt auch für den bei Gegnern und Befürwortern der Reformen verbreiteten Hang zur ideologischen Überhöhung letztlich doch recht pragmatischer und – wenn man so will und das ist mir angesichts des oben gesagten sehr wichtig – systemimmanenter Anpassungsmaßnahmen. Tatsächlich handelte es sich bei den Reformen der den deutschen Sozialstaat prägenden Sozialversicherungen um heftige Sanierungsmaßnahmen, die vielen Menschen Zumutungen abverlangt haben. Deren Ziel war es aber nicht, den Sozialstaat abzuschaffen, wie manche befürchteten und andere hofften. Es war das Ziel, Einnahmen und Ausgaben langfristig zur Deckung zu bringen und sicherzustellen, dass für immer noch ordentliche Leistungen z.B. der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die Belastung der die Beiträge aufbringenden Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht so hoch ausfällt, dass die Legitimation des ganzen Systems der sozialen Sicherung darüber in Gefahr gerät. Das ist nicht wenig und erforderte Mut.

In der Wissenschaft mehren sich die Stimmen, die z.B. im Hinblick auf die Rentenversicherung die notwendigen Reformen als erledigt beschreiben. (Natürlich bleibt noch etwas zu tun; aber nicht so sehr im Hinblick auf die Rechnungsgrundlagen als im Hinblick auf die stets notwendige Einzelfallgerechtigkeit.)

Die Reform der Arbeitsvermittlung verfolgte auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes ähnliche Zielsetzungen. Es ging um die Erhöhung der Mobilität unter den Bedingungen von Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung, die zu den großen Errungenschaften der deutschen Arbeiterbewegung gehören. Und es ging bei der Reform der Arbeitsvermittlung darum, sich den Herausforderungen einer sich seit Anfang der achtziger Jahre verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit zu stellen. Die Arbeitsvermittlung zur am besten funktionierenden öffentlichen Institution auszubauen, die den Menschen in der für viele bedrückenden Lage beisteht, wird noch lange auf der Tagesordnung stehen. Damit wurde durch die Reformen immerhin begonnen.

Der politische Gewinn dieser Reformen liegt vor allem darin, dass der deutsche Sozialstaat auch in Zeiten raschen wirtschaftlichen Wandels und unter den Bedingungen der Globalisierung eine Zukunft hat. Das ist wichtig für die Menschen, die auf den Sozialstaat setzen und natürlich auch für die Sozialstaatspartei SPD.

Um so mehr sich der Eindruck verfestigen wird, dass die für den Sozialstaat notwendigen Sanierungsmaßnahmen hinter uns liegen, um so weniger wird auf die gehört werden, die hinter der Fahne der Globalisierung gegen den Sozialstaat kämpfen. Noch sind wir nicht soweit. Jahrelang sind die Zweifel an der Zukunftstüchtigkeit des Sozialstaates gewachsen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ist auch durch die fehlende Glaubwürdigkeit mancher Politikeraussage untergraben worden. Und die Leute vergessen ihre Zweifel nicht so schnell. Aber immerhin, nachdem die wesentlichen Sanierungsschritte getan sind, kann das Vertrauen allmählich wieder wachsen. Wer das erreichen will, muss auch davon sprechen, dass jetzt weitere Einschränkungen der Leistungen der sozialen Sicherungssysteme nicht auf der Tagesordnung stehen. Das wird Widerspruch von meinungsbildenden Personen und meinungsmächtigen Gruppen erfahren. Sie werden einen reformfeindlich nennen und ahnungslos. Dagegen lassen sich sachlich gute Argumente vorbringen. Das gewichtigste Argument der Sozialstaatspartei sind aber wohl Schröders Reformen.

Reformen waren nötig. Und eine solche Situation kann sich in unseren schnelllebigen Zeiten immer wieder ergeben. Trotzdem ist es nötig, dass wer Sanierungsmaßnahmen ergreift, irgendwann auch ihren Erfolg meldet und vom turn-around spricht. Sonst erfahren die Menschen, die für die Reformen gewonnen werden sollen, das ganze Geschehen als Rutschbahn ohne Ende. Das kann nicht funktionieren.

Die Sanierungsreformen waren nicht ein ritueller Selbstkasteiungsakt, den jeder vollziehen muss, der als ernsthafter Reformpolitiker anerkannt sein will. Vielmehr lag ihnen die sachliche Einschätzung zugrunde, dass diese Reformen für die langfristige Sicherung unseres Sozialstaates notwendig sind. Wenn es aber sachliche Einschätzungen Grundlage der Reformen waren, muss es auch die sachliche Einschätzung geben können, dass die Sanierung weit gediehen ist. Dass der Sozialstaat eine Zukunft hat, ist wieder plausibel geworden. Für die fortschrittlichen Menschen in Deutschland ist es von existentieller Bedeutung, dass sie diesen Standpunkt einnehmen. Wenn die Anhänger und Nutznießer des Sozialstaates über diesen vorwiegend schlecht gelaunt sind, wird es ihm auf Dauer an ausreichender Legitimation fehlen. Und die diese schlechte Laune verbreiten, erledigen nur das Werk derjenigen, die ihn loswerden wollen.

Sehr geehrter Herr Gengerke, ich habe mich mit diesem Thema seit vielen Jahren immer wieder beschäftigt, weil es mir besonders wichtig ist. Ich habe mich zu diesem Thema auch bereits auf vielen Veranstaltungen und in vielen Reden und Texten geäußert. Deshalb habe ich Ihnen auch so ausführlich geantwortet. Meine vollständigen Reden und Texte zu diesem Thema, z.B. beim Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, finden Sie auf meiner Homepage www.olafscholz.de.

Mit freundlichen Grüßen

Olaf Scholz

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