Frage an Özcan Mutlu von Harald B. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Mutlu,
meine Mutmaßung, die Sie nicht nachvollziehen können, geht auf Äußerungen der grünen Spitzenkandidatin Frau Eichstädt-Bohlig zurück, die diese auf Wahlkampfveranstaltungen gemacht hat. Heute nun fand ich diese auch als Zitat in der netzeitung.de. Demnach sei die Abschaffung der Realschulen und Gymnasien zugunsten einer Gemeinschaftsschule keine Option. Es ginge lediglich um die schrittweise Zusammenführung von Haupt- und Realschulen.
Teilen Sie meine Auffassung, dass mit dieser Vorgehensweise aus dem jetzt 3-gliedrigen, dann lediglich ein 2-gliedriges Schulsystem erwachsen würde, dass dann aber immer noch eine Selektion darstellt. Und dass die damit verbundenen Probleme, nämlich wieder eine Schule zu haben, in die die vermeintlich leistungsstarken Kinder gehen (Gymnasium), und eine, für die vermeintlich leistungsschwächeren (fusionierte Haupt-und Realschule), sich dann lediglich in abgemilderter Form fortsetzen? Wenn Sie diese Auffassung nicht teilen, weshalb wollen Sie dann dennoch eine Gemeinschaftsschule?
Sehr geehrter Herr Bucher,
ich kann mich nur wiederholen. Ich stehe weiterhin für eine Gemeinschaftsschule die von individueller Förderung geprägt ist, eine Gemeinschaftsschule für alle von der Klasse 1 bis 10 nach skandv. Vorbild. Gleichzeitig bin ich aber Realist genug, um zu wissen, dass diese Forderung nicht durch einen Parlamentsbeschluss erreicht werden kann. Daher müssen wir auf den Weg dorthin, Ausleseinstrumente, wie das Sitzenbleiben, das Probehalbjahr u.ä. abschaffen und durch mehr gezielte und individiuelle Förderung ersetzen. Hierbei kann m.E. die Zweigliedrigkeit als ein erster Zwischenschritt zur Gemeinschaftsschule helfen. Einen wissenschaftlichen Beweis hierzu kann ich nicht liefern. Dennoch können sich die PISA-Ergbenisse mancher Neuen-Bundesländer, die seit Jahren unterschiedliche Formen der zweigliedrigen Schule besitzen, zeigen lassen. Vergessen Sie auch nichtm, dass die diversen internationalen Schulleistungsstudien keine Belege für die in Deutschland verbreitete Annahme, Lernen in leistungshomogenen Gruppen führe automatisch zu besseren Schulleistungen, liefern. Im Gegenteil: Alle Länder, die im Sekundarschulbereich ein größeres Leistungsspektrum bei den SchülerInnen aufweisen, haben bessere Ergebnisse, und das nicht nur bei den leistungsschwächeren SchülerInnen. Die meisten der erfolgreichen Länder haben integrative Schulsysteme mit einer gemeinsamen Schulzeit bis zum Ende der 9. oder 10. Klasse. Eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen wäre also ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ziel muss die Überwindung der Selektivität des bestehenden Schulsystems durch eine moderne Lern- und Unterrichtskultur, sein.
Wenn in einer gemeinsamen Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse der gleiche schlechte Unterricht wie bisher stattfindet, ändert sich auch wenig. Nur, wenn wir die Heterogenität der Schülerschaft nicht mehr als lästiges Problem betrachten, sondern zum Ausgangspunkt jeder Pädagogik machen, haben wir eine Chance.
Daher ist eine grundlegende Veränderung des Unterrichts und des schulischen Lebens unabdingbar. Eine Veränderung der Unterrichtskultur stößt allerdings an strukturelle Grenzen, wenn die SchülerInnen nach wie vor ausgesiebt und leistungsschwächere SchülerInnen auf die nächstniedrigere Schulform abgeschoben werden können. Veränderungen der Unterrichtskultur und der Schulstruktur müssen daher konsequent zusammengedacht werden.
Ich hoffe Ihre Frage nun beantwortet zu haben. Für weitere Fragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Özcan Mutlu