Frage an Özcan Mutlu von Gökhan Y. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Herr Mutlu,
in letzter Zeit häufen sich Übergriffe gegen Menschen aus nicht deutscher Herkunft. Ich habe das Gefühl, dass wir (Orientstämmige) hier im Lande für alle Probleme Verantwortlich gemacht werden. (Bildung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität...Integration) Dazu fängt man an uns zu Mißtrauen (sind unsere Türken auch Terroristen-Islamisten, wie gefährlich sind sie?) Was wollen sie gegen diese aufkeimende Diskrimminierung - bzw. verdeckte Rassismus tun? und was können wir dazu beitragen?
Mit freundlichen Grüßen
Gökhan Yilmaz
Lieber Gökhan Yilmaz,
vielen Dank für die Anfrage. In der Tat häufen sich in letzter Zeit Übergriffe gegen Menschen nichtdeutscher Herkunft, anderer Hautfarbe, anderer Religion oder anderer Lebensweise. Rechte Gewalt, anders gesagt Gewalt von Neonazis und Skinheads steigt in den vergangenen Jahren stetig an, so auch die Antwort des Berliner Innensenators auf meine Kleine-Anfrage zur Thematik (siehe http://www.mutlu.de/dokumente/parlament/226544.html )
Deine 2. Feststellung trifft auch zu, insbesondere sind es konservative PolitikerInnen die bei Problemen in Zusammenhang mit Migration und Integration, immer nach Schuldigen suchen, anstatt nach Lösungen zu schauen. Ich kann mich noch sehr gut an die Argumente der CDU/CSU erinnern, die gleich nach der Vorstellung der 1. PISA- Untersuchung im Jahr 2000, die Schuldigen sofort bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgemacht haben. Dabei betrug/beträgt der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund in der gesamten Republik ca. 5%. Wie können 5 % der SchülerInnen das Ergebnis derart negativ beeinflussen?
Nach der abschließenden Analyse der PISA-Daten haben die Wissenschaftler unterstrichen, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht Schuld an der Bildungsmisere sind, sondern selber leidtragende unseres antiquierten Bildungssystems sind. Derartige Beispiele gibt es viele. Das sollte nicht wundern, schließlich haben in diesem Land PolitikerInnen, insbesondere vom Lager der CDU und CSU, über 50 Jahre lang die Realität der Einwanderung geleugnet und nichts unternommen, um die Menschen zu integrieren. Kaum Investitionen in die Bildung der Migrantenkinder und keine Investitionen in die Integration. Dabei sind wir schon längst eine Einwanderungsgesellschaft. Die Beweise dafür sind allgegenwärtig: Wir essen morgens gerne Baguette zum Frühstück, die Pizza ist nicht wegzudenken von unseren Küchen, Döner-Kebab wird inzwischen als deutsche Spezialität in Fernost vermarktet. Namen wie Fatih Akin oder Ayse Polat (beide preisgekrönte Regisseure), Feridun Zaimoglu oder Hatice Akgün (beide sehr erfolgreiche SchriftstellerInnen), oder Oktay Urkal, der amtierende Box-Europameister, der in Atlanta Silber für Deutschland geholt hat u.v.m. sprechen eine klare Sprache. Ein anderer Bereich tangiert Wirtschaft: In der gesamten Republik gibt es 60.000 UnternehmerInnen allein türkischer Herkunft, die 350.000 Jobs geschaffen haben.
Damit Vorurteile und Ressentiments abgebaut werden, müssen eben diese Vorbilder sichtbarer werden und von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert werden. Die Politik muss sich mit der Realität der Einwanderung abfinden und entsprechende Schritte zur Akzeptanz und Integration der EinwanderInnen einleiten. Dazu gehören insbesondere Reformen in der Bildungspolitik und Maßnahmen zur nachholenden Integration, sowie mehr Investitionen in die Integration. Ein Einwanderungsgesetz allein reicht nicht aus, wir müssen die Gesellschaft gewinnen und die Köpfe verändern. Das gilt für die MigrantInnen genauso, auch sie tragen Verantwortung für eine gelungene Integration. Integration ist eben keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Prozess. Ich selbst bemühe mich nun seit über 15 Jahren als Politiker für ein besseres Miteinander. Entgegen der Vorwürfe, wir würden alles aus einer rosa-roten Multikulti-Brille betrachten, haben wir als Partei Bündnis 90 / Die Grünen immer wieder auf die Missstände aufmerksam gemacht und Vorschläge unterbreitet. Dort wo wir in Regierungsverantwortung waren, auch Weichen gestellt. Das neue Einbürgerungsgesetz und das Zuwanderungsgesetz gehen auf unsere Initiative zurück (ich persönlich habe mir mehr gewünscht, aber mit der Bundesratsmehrheit der CDU-CSU-regierten Bundesländern war nicht mehr zu machen.)
Unsere Fraktion vor wenigen Monaten unter der Überschrift "Integration konkret" ein Maßnahmenpaket vorgelegt (siehe: http://www.gruene-fraktion-berlin.de/cms/default/dok/114/114863.integrationspolitik_konkret.htm ), welches wir nach dem 17. Sep. in Regierungsverantwortung zügig umsetzen wollen. Dabei geht es um interkulturelle Öffnung des öffentlichen Dienstes, Reformen in den Kitas und Schulen usw.
Wir setzen auf Akzeptanz und Aufklärung um "gegen diese aufkeimende Diskriminierung - bzw. verdeckten Rassismus" vorzugehen und kämpfen für gleiche Rechte für Alle.
Ich hoffe Ihre Fragen zufriedenstellend beantwortet zu haben und wenn es nicht ausführlich genug gewesen ist, lade ich Sie gerne für einen Gedankeaustausch zu mir ins Abgeordnetenhaus ein.
Mit freundlichen Grüßen
Özcan Mutlu