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Nina Scheer
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Frage von Reinhard G. •

Frage an Nina Scheer von Reinhard G. bezüglich Recht

Sehr geehrte Frau Scheer,

ich habe gehört, dass das Bundeskabinett das Infektionsschutzgesetz wieder ändern will (§28b). Danach sollen Corona-Maßnahmen zentral von der Bundesregierung ohne Beteiligung der Länder und Gemeinden beschlossen werden. Bei dem Überschreiten bestimmter Zahlen sollen automatisch nächtliche Ausgangssperren verhängt werden, usw.

Widerspricht so ein Vorhaben bestimmten Prinzipien des Grundgesetzes? Dort wurde ja bewusst eine Gewaltenteilung vorgeschrieben und das Recht der Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern in bestimmter Weise aufgeteilt.

Haben die Bürger nicht das Recht, die Maßnahmen und Eingriffe in Grundrechte gerichtlich auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüfen zu lassen? Ist es richtig, dass sie sich damit nicht mehr an die Verwaltungsgerichte wenden können, falls das Infektionsschutzgesetz in dieser Weise geändert wird?

Ich habe gehört, dass bestimmte Kabinettsbeschlüsse auch ohne Beratung und Zustimmung des Bundestages Gesetz werden sollen. Es sei geplant, eine Frist festzusetzen, in der der Bundestag widersprechen kann. Könnte so eine Frist nicht in einer Zeit, in der keine Sitzungswochen stattfinden, versäumt werden?

Die angedachte Gesetzesänderung soll ab einer bestimmten „7-Tage-Inzidenz“ gelten. Zur Zeit werden ja immer mehr Corona-Schnelltests durchgeführt. Können Sie mir sagen, welchen Einfluss die Zunahme der Tests auf die Zahl der „7-Tage-Inzidenz“ hat?

Glauben Sie, dass zentralistisch getroffene Entscheidungen besser sind, als regional getroffene, die vielleicht an die Verhältnisse vor Ort besser angepasst sind? Könnten vielleicht gerade durch unterschiedliche Maßnahmen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, was wirklich wirksam ist?

Wenn aber trotzdem einheitlichere Regeln gewünscht sind – könnten dann nicht die Bundesländer solche eigenständig beschließen? Ist die Souveränität der Länder nicht ein rechtsstaatlich hohes Gut, das keinesfalls aufgeweicht werden sollte?

Mit freundlichen Grüßen

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Großmann,

zunächst bitte ich Sie meine verspätete Antwort zu entschuldigen; die Vielzahl an Zuschriften - die allermeisten erhalte ich über die direkten Kontaktdaten - lässt eine zeitnahe Beantwortung leider nicht immer zu.

Die letzten Änderungen am Infektionsschutzgesetzt waren dem verbreiteten Anliegen geschuldet, mehr Einheitlichkeit und damit auch eine bessere Umsetzbarkeit und Rechtssicherheit zu schaffen. Gleichwohl bedeutet dies keine Aushebelung: strengere länderseitige Maßnahmen greifen weiter. Gerichtlich kann selbstredend weiterhin gegen staatliche Maßnahmen vorgegangen werden. Grundrechtsrelevante Eingriffe erfordern aber auch die grundgesetzlich geforderte Rechtsgrundlage - insofern wurden verfassungsrechtlich gebotene bundesgesetzliche Rechtsgrundlagen geschaffen.

Alle Kabinettsbeschlüsse zu Gesetzentwürfen werden vom Bundestag parlamentarisch beraten und erlangen nur über diesen Weg Gesetzeskraft. Wie auch in anderen Regelungsbereichen wurde eine Verordnungsermächtigung geschaffen, auf deren Grundlage die Bundesregierung Rechtsverordnungen erlassen kann - wenn schnelles Handeln gefragt ist, das auch der Regelungsmaterie nach besser exekutiv als gesetzlich auszugestalten ist. Damit die Gewaltenteilung nicht unterlaufen wird, wurde eine Zustimmungspflichtigkeit des Bundestages normiert. Die Regelung zur Zustimmung des Bundestages wurde im Parlamentarischen Verfahren zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes noch gestärkt.

Der 7-Tage-Inzidenzwert erklärt die Infizierten je 100.000 Einwohner. Wenn durch verbreitete Tests mehr Infizierte „entdeckt“ werden, ändert dies nichts an dem Umstand, dass der Inzidenzwert Aufschluss über das Infektionsgeschehen gibt und dieser somit ermöglicht, gegensteuernde Maßnahmen zu ergreifen, die letztlich ja auch wirken. Die Orientierung an der „7-Tage-Inzidenz“ hat sich somit insgesamt bewährt, auch wenn sie Ungenauigkeiten enthält. Aber was würde uns eine genauere Maßeinheit bringen, wenn sie in der Breite weder umsetzbar ist noch die erforderliche Vergleichbarkeit über das gesamten Bundesgebiet und den Zeitraum gewährleistet? Wenn der „Preis“ für die Optimierung einer Maßnahme bedeutet, dass keine Maßnahme flächendeckend verfügbar ist, ist damit nichts gewonnen.

Fehler sehe ich hingegen sehr wohl in dem Umstand, dass nicht bereits vor Jahren staatlicherseits Vorsorge getroffen wurde, etwa um im Falle einer Epidemie oder gar Pandemie ausreichend Schutzkleidung verfügbar zu haben. Hier haben Privatisierungs- und Ökonomisierungsdruck zu fatalen Versorgungslücken geführt, die nach meiner Beobachtung auch nicht hinreichend schnell geschlossen wurden. So plädierte ich bereits im März 2020 dafür, notfalls Unternehmen zur Produktion von Masken und Schutzkleidung zu verpflichten. Der Bundesgesundheitsminister kann solche Verpflichtungen auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes und durch Rechtsverordnung veranlassen. Leider wurde dies versäumt, womit auch das Tragen medizinischer Masken in der Breite und verpflichtend sowie für alle frei zugänglich viel zu spät einsetzte. Zwar haben sich viele Unternehmen dankenswerter Weise kurzfristig eigenständig an der Herstellung von Schutzkleidung beteiligt. Die Versorgungsengpässe hätten aber schneller geschlossen werden können, wenn von Seiten des Bundesgesundheitsministers, gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsminister in Fragen der Herstellung wie benannt gehandelt worden wäre. Hier, wie auch in der CDU/CSU-seitigen Verweigerung einer Homeoffice-Pflicht (wo möglich), sehe ich tatsächlich Versäumnisse. Gleiches gilt auch in Bezug auf Versäumnisse bei der Beschaffung von Impfstoffen.

Zudem sehe ich Deutschland und Europa in der Pflicht, den Zugang zur freien Impfstoffproduktion in ärmeren Ländern unmittelbar zu ermöglichen. Selbst wenn hier heute zu wenig Produktionskapazität das noch drängendere Problem ist, werden Produktionskapazitäten sicher nicht ohne eine greifbare Aussicht auf freigegebene Patente aufgebaut werden können. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden - auch zur Bekämpfung späterer Krankheiten und um den erforderlichen Schutz der Weltbevölkerung zu gewährleisten; das Virus macht an keiner Grenze halt. Schließlich gilt es auch Mutationen so gut wie möglich zu vermeiden; letzteres erfordert auch ein Verbot mit Wildtierhandel. Es muss zudem weitere Regenwaldvernichtung unterbunden werden. Es ist erwiesen, dass durch Kontakt mit Wildtieren Epidemien ausgelöst wurden und werden.

Zu Ihrer nächsten Frage: Ja, es entspricht auch meinem Demokratieverständnis, dass die Entscheidungsebenen dem Subsidiaritätsprinzip folgen, womit staatliche Aufgaben soweit wie möglich von der kleineren Ebene wahrzunehmen sind. Denn auch die relative Nähe zwischen BürgerInnen-Entscheidungen ist entscheidend für deren demokratische Legitimation. Die Pandemie hat uns „von heute auf morgen“ vor immense Herausforderungen gestellt. Leider gelang es nicht, mit diesen Herausforderungen flächendeckend gleichermaßen erfolgreich umzugehen. Lebenswirklichkeit und Bewegungsprofile sowie die Verbreitungseigenschaft des Virus haben es letztlich eingefordert, bei lokaler Pandemiebewältigung nicht stehen zu bleiben, sondern auch regionenübergreifende, allgemeingültige Regelungen zu treffen.

Weitergehende Fragen richten Sie gern an nina.scheer@bundestag.de.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Nina Scheer

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