Nikolai Zinke
dieBasis
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Frage von Tilo S. •

Werter Herr Zinke! Mit dem Begriff "cancel culture" können einige Menschen nichts anfangen, bitte erklären Sie und wie dieBasis agiert.

Die Ausgrenzung von Künstlern aller Genres, die offen eine eigene Meinung vertreten und selbstbestimmt über sich selbst handeln, hat bedenklichste Ausmaße angenommen...

Antwort von
dieBasis

Ich teile Ihre Einschätzung grundsätzlich.

Als "Cancel Culture" (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture) werden systematische Bestrebungen bezeichnet, Menschen oder Organisationen von Veranstaltungen oder anderen sozial relevanten Plattformen auszuschließen, da diese sich diskriminierend gegenüber bestimmten, benachteiligten Menschengruppen verhalten haben (sollen) - wichtig ist hierbei das in Klammern gesetzte “sollen”, da es im Einzelfall nicht immer leicht und offensichtlich ist, ob tatsächlich ein diskriminierendes Verhalten vorlag, das die entsprechenden Person oder Gruppe derartig diskreditiert, so dass diese ihr Recht auf freie Meinungsäußerung bzw. Ausübung von Wissenschaft und Kunst verwirkt haben.

Die Argumentation der Befürworter des Cancelns ist: Vermeintlich "böse" Menschen dürfe keine Plattform geboten werden, da deren Ideen/Thesen derartig abstrus, falsch oder menschenverachtend seien, dass sie die Gesellschaft als Teil oder als Ganzes beschädigten, so dass ein Ausschluss notwendig sei. Häufig werden in diesem Zusammenhang solche Personen/Menschengruppen gemeint, die eine (teilweise) abweichende Auffassung zu Fragen wie z.B. Geschlechts- und Sexualidentität, Klimawandel, Migration oder – neuerdings – auch Corona und Ukraine-Krieg haben.

Dabei ist wichtig zu wissen: Der Begriff "Cancel Culture" ist für sich genommen bereits politisch gefärbt ("Kampfbegriff") und umstritten. Dies bringt mit sich, dass er von zwei Seiten missbraucht werden kann: zum einen von jenen, die auch dort Ausgrenzung wittern, wo es sich um sachlich nachvollziehbaren Ausschluss handelt (Durchsetzung des Hausrechtes aufgrund eines erheblichen Sicherheitsrisikos oder Straftatbestände o.ä.), zum anderen aber auch bei jenen, die pauschal alle z.B. als "rechtsextrem" diffamieren, die (ebenfalls) in berechtigten Fällen eine konkrete Gefahr für die Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit sehen. Allerdings entstammt die Kritik an Cancel Culture nicht ausschließlich aus dem konservativen Spektrum, sondern es findet sich auch solche aus dem linken Spektrum. Zudem findet Cancel Culture sowohl von "links" als auch von "rechts" statt. Zur Versachlichung trägt bei, mögliche Vorfälle immer konkret unter Einbeziehung des Kontextes zu prüfen, ob es sich hier um einen unberechtigten sozialen Ausschluss, also "Canceln", handelt.

Ein Beispiel für Cancel Culture ist der letztlich eben nicht gehaltene Vortrag der Verhaltensbiologin Marie-Luise Vollbrecht an der HU Berlin (https://www.sueddeutsche.de/politik/cancel-culture-berlin-universitaet-gender-1.5614802), da diese wohlbegründet von einer Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie ausgeht und sich damit bereits in den Augen einiger weniger extremistischer Transgender-Aktivistinnen verdächtig macht und aggressiven, nicht sachlich getragenen Protest auslöste. Die Folge: Einschüchterung und Absage des Vortrages.

Ich sage: dies darf nicht sein!

Ich persönlich sehe weniger die Gefahr, wenn einzelne Veranstalter oder Verlage bestimmte Personen ausladen bzw. die Zusammenarbeit aufkündigen, diese aber woanders problemlos in vergleichbarer Reichweite eine Plattform finden. Viel eher sehe ich hingegen die Gefahr, dass ein – vielleicht gut gemeinter – "linksliberaler" Zeitgeist zu einem vorauseilenden, unkritischen Gehorsam bzw. zur Selbstzensur führt, welche die Schattenseiten ausblendet: faktische Einschränkungen von Meinungsfreiheit, Wissenschafts- und Kunstfreiheit.

Es ist m.E. besonders wichtig, dass eben Personen sachlich und wohlbegründet gerade GEGEN einen vorherrschenden Zeitgeist den Mut aufbringen, ihre Gedanken in Form von Rede, Wissenschaft und Kunst TROTZDEM zu äußern. Mutig ist es deshalb, da bereits ohne Cancel Culture von einem sozialen "Gegenwind" auszugehen ist. Es ist dagegen wenig mutig, den aktuellen Zeitgeist zu affimieren, also zu bestätigen (was inhaltlich nicht grundsätzlich falsch sein muss – es ist z.B. richtig, gegen Rassismus zu sein). Die Antithese, sozusagen die Gegenrede, gehört aber ZWINGEND zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft. Selbstverständlich muss diese Debatte innerhalb des geltenden Rechts erfolgen (z.B. keine Beleidigung, keine Volksverhetzung etc.).

Aus diesem Grund darf die grundgesetzlich verankerte Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit nicht bestimmten Ideologien oder Machtinteressen, egal woher diese stammen, geopfert werden!

Gesetze hierfür könnten zwar helfen, indem man die Rechte von Autoren, Wissenschaftlern und Vortragenden stärkt. Wirkliche Abhilfe kann aber nur eine wache, offene Zivilgesellschaft sein, die nicht vor einer kleinen, aber aggressiven und intoleranten Minderheit einknickt und die offene Debatte verteidigt!

Da ein Teil von Grundrechten betroffen sind, zitiere ich gern die Erläuterung unserer Forderung dazu (siehe auch: https://pankow.diebasis.berlin/wahl-2023/)

Mitglieder der basisdemokratischen Partei engagieren sich seit nun fast drei Jahren für die Bewahrung unserer im Grundgesetz verankerten Grundrechte und Freiheiten und für den Erhalt der Demokratie. Grundrechte sind nicht verhandelbar. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie alle anderen durch das Grundgesetz garantierten Grundrechte dürfen nicht aufgehoben oder außer Kraft gesetzt werden. Engagiere dich mit uns für mehr Demokratie!”