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Niema Movassat
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Frage von Anna W. •

Frage an Niema Movassat von Anna W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Movassat,

mein Name ist Anna Wehrheim und ich bin Schülerin der 12 Klasse des Gymnasiums am Römerkastell in Alzey. Im Rahmen meiner Facharbeit "Von der Politikverdrossenheit der Bürger zur Bürgerverdrossenheit der Politiker- Befindet sich die repräsentative Demokratie in der Krise?" beschäftige ich mich unter anderem mit der sich wandelnden Protestkultur in unserem Land und interessiere mich deshalb für Stimmen von Bürgern und Politkern zu ihrem subjektiven Empfinden des Verhältnisses von den Regierenden zu den Regierten.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich in meiner Arbeit unterstützen könnten, indem Sie den angehängten Fragebogen beantworten.
Schon jetzt vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe.

Mit freundlichen Grüßen

Anna Wehrheim

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrte Frau Wehrheim,

In der Geschichte der BRD gab es auch früher schon Protestkulturen, die über das reine Demonstrieren hinausgingen, siehe zum Beispiel die Proteste in Brokdorf oder gegen die Startbahn West in den 1980er Jahren. Allerdings teile ich die Meinung, dass die Organisation von Massenblockaden gegen Naziaufmärsche oder gegen den Castor in den letzten Jahren an Professionalität zugenommen und sich weiter gesellschaftlich etabliert hat. Es handelt sich dabei aus meiner Sicht aber eher um das Wiederaufleben eines alten Leitsatzes: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ (B. Brecht).

Nun zu den direkten Fragen:

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

Die beiden Protestbewegungen sind aus meiner Sicht nur schwer miteinander zu vergleichen.

In Stuttgart entstand die Protestbewegung gegen ein singuläres, lokales Projekt. Die Palette des Engagements gegen den milliardenschweren Bau in Stuttgart war von Beginn an vielfältig. Einige linke Bewegungen sahen in dem Projekt den Auswuchs des Kapitalismus und hatten eine sozialpolitische Motivation, sich der Protestbewegung anzuschließen. Angesichts der sozialpolitischen Defizite in der Stadt und der Inkompetenz der Regierungsparteien, ist dieses Bauvorhaben auch aus meiner Sicht ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, keine Kita-Plätze für ihre Kinder bekommen oder nicht wissen, wie sie ihren Kindern eine gute Bildungschance ermöglichen können. Für Andere wiederum stand nicht das Sozialpolitische im Vordergrund des eigenen Engagements. Politikverdrossene sammelten sich ebenso unter dem Banner der Gegenproteste, wie UmweltaktivistInnen oder Menschen, die einfach wütend über die sorglose Verschwendung von Steuergeldern waren.

Die Proteste gegen den Castor haben hingegen eine längere Tradition und entstanden aus der linken Friedensbewegung. Inzwischen sind die Proteste im Wendland bis tief in die bürgerliche Gesellschaft verankert und reichen andereseits bis in die radikale Linke hinein. Dabei sind sich die Protestierenden in ihrer Motivation einig: Atomindustrie gefährdet unser aller Leben und muss abgeschafft werden. Der Ausstieg aus dem Atomausstieg ist absolut inakzeptabel. Das Beispiel Japan mit den noch nicht abzuschätzenden Opfern und Langzeitschäden für Mensch und Natur mahnt uns. Das derzeitige Schlingern der Bundesregierung in Atompolitik ist eine Schande für die gesamte Politik. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens gegen Atomkraft! Dieser Konsens sorgte in der Vergangenheit dafür, dass Protestierende aus dem gesamten Bundesgebiet nach Gorleben reisten, um den Castor zu blockieren. Und er Widerstand wird sich nach den jüngsten Ereignissen sicher noch verfestigen. Die Protestformen ergänzten sich im Wendland dabei gut: neben den schon seit Jahren stattfindenden Gleisblockaden gab es im vergangenen Jahr auch wieder AktivistInnen die im großen Stil den Schotter unter den Gleisen aushöhlten und dies öffentlich ankündigten, um ein Passieren des Castor Transports so unmöglich zu machen. Die unterschiedlichen Aktionsformen verhielten sich dabei solidarisch zueinander, was ein großer Erfolg der gesamten Bewegung darstellt. Auf den Gleisblockaden in Gorleben waren beispielsweise Sprechchöre zu hören, die die Einigkeit klar demonstrierten: „blockieren – schottern - Hand in Hand! Einig ist der Widerstand!“ (Siehe hierzu auch den Bericht in der Paroli-Zeitung auf S. 4: http://www.paroli-verein.de/pdf/20_Dez_10.pdf ).

Insgesamt gibt es für mich die Hoffnung, dass wieder mehr Menschen bereit sind für ihre Ideale und Überzeugungen auf die Straße zu gehen. Das Prinzip des zivilen Ungehorsams, wie er auch von Brecht vertreten wurde, ist nicht etwa ein verstaubtes Relikt vergangener Tage, sondern zieht auch heute noch junge AktivistInnen an. Ausschlaggebend für die weitere Etablierung sind aber auch Erfolge solcher Bewegungen, wie sie sich in Gorleben oder auch bei der Blockade des größten Naziaufmarschs Europas in Dresden gezeigt haben (siehe hierzu auch meinen Bericht auf der Website: http://www.movassat.de/486 ). Noch haben wir die Protestfreudigkeit unserer französischen und griechischen Nachbarn nicht in Deutschland erreicht. Geht der Staat jedoch weiter so menschenunwürdig mit seinen BürgerInnen um, könnten sich im besten Sinne auch in der BRD soziale Unruhen entzünden.

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

Mit einem Wort: mangelhaft! Die parlamentarische Arbeit wird fast ausschließlich über die Parlamentarier und deren Pressearbeit kommuniziert. JournalistInnen berichten für die großen Sendeanstalten über Beschlüsse und Beratungen der Abgeordneten. Ein Austausch findet jedoch kaum statt. Das Parlament kann selbstverständlich besucht werden und ist der Öffentlichkeit zugänglich. Auch aus meinem Wahlkreisbüro werden regelmäßig Fahrten nach Berlin und in den Bundestag organisiert. Der Kontakt bleibt jedoch ein künstlicher. Er gleicht einem Besuch im Museum. Kommunikation im Sinne eines Dialogs aus dem sich Konsequenzen für das parlamentarische Handeln ergeben, findet nicht statt. Dies ist und bleibt ein Problem der repräsentativen Demokratie und des noch vorherrschenden konservativen Politikverständnisses.

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

Ein Weg die Bürgerinnen und Bürger mehr in die parlamentarischen Entscheidungen einzubinden sind Volksentscheide. Ich habe bereits in einer anderen Anfrage meine Haltung zum Thema „Volksentscheide“ bei Abgeordnetenwatch veröffentlicht (siehe: http://bit.ly/fOAACe ). Aber auch die Herabsetzung der Alterbeschränkung und die Ausweitung des Wahlrechts auf alle in Deutschland lebenden Menschen sind wichtige Aspekte, die eine partizipative Politik befördern würden.

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?
5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

Hier würde ich ebenfalls gerne auf meine bereits veröffentlichten Zeilen zum Thema verweisen (siehe: http://bit.ly/fOAACe ).

Mit freundlichen Grüßen
Niema Movassat