Frage an Niels Annen von Andreas R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Annen,
wie werden Sie am Freitag bei der Abstimmung zur Vorratsdatenspeicherung abstimmen?
Bitte lesen Sie vor der Abstimmung diese gemeinsame Erklärung vieler besorgter Organisationen und Menschen gegen die Vorratsdatenspeicherung.
Bitte unterstützen Sie nicht die Einführung des totalen Überwachungsstaats in Deutschland
Mit freundlichem Gruß
Andreas Rohlfs
Sehr geehrter Herr Rohlfs,
vielen Dank für Ihre Frage vom 8. November 2007, in der Sie den Regierungsentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG ansprechen.
Ich habe – trotz schwerwiegender politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken - dem Gesetzentwurf in der Abstimmung am 9. November zugestimmt.
Meine Entscheidung habe ich in einer persönlichen Erklärung, die ich zusammen mit anderen Abgeordneten meiner Fraktion unterzeichnet habe, näher begründet.
Folgende Erwägungen, die ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen möchte, waren für meine Entscheidung ausschlaggebend:
1. Mit der Bundesregierung und der Mehrheit meiner Fraktion stimme ich grundsätzlich darin überein, dass die insbesondere durch den internationalen Terrorismus und dessen Folgeerscheinungen entstandene labile Sicherheitslage auch in Deutschland neue Antworten benötigt. Nach meiner Überzeugung sind angesichts der rasanten Entwicklung der Telekommunikation auch in diesem Bereich Maßnahmen zur Verhinderung schwerster Straftaten notwendig.
2. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass Freiheitsrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens haben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtssprechung dieses Recht – und seine Beachtung – immer wieder angemahnt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Entscheidungen zur Volkszählung, zur „akustischen Wohnraumüberwachung“, zum Luftsicherheitsgesetz oder zum niedersächsischen Polizeigesetz.
3. In dem damit notwendigen Abwägungsprozess gilt für mich, dass Sicherheit keinen Vorrang vor Freiheit genießen darf, will man beides gewährleisten. Weder gibt unsere Verfassung ein Grundrecht auf Sicherheit her, noch ist vorstellbar, dass es ohne Abschaffung der Freiheit eine absolute Sicherheit gegen jedwede Gefährdung durch kriminelles Handeln geben kann.
4. Die seit den letzten Jahren zu beobachtende Tendenz, ohne die Effektivität bestehender Gesetze zu überprüfen, mit neuen Gesetzen vermeintlich Sicherheit zu erhöhen und Freiheitsrechte einzuschränken, wird durch den hier in Rede stehenden Gesetzentwurf verstärkt. Gerade die ja auch von Ihnen angesprochene sogenannte Vorratsdatenspeicherung stellt einen Paradigmenwechsel dar: Mit dem Gesetz werden die Telekommunikationsunternehmen zum ersten Mal verpflichtet, die im Gesetz aufgeführten Daten zum Zwecke unter anderem der Strafverfolgung über einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern. Das ist natürlich ein gravierender Unterschied zur bisherigen Rechtslage, wonach den Unternehmen gestattet war, zu Abrechnungszwecken die entsprechenden Daten bis zu sechs Monaten zu speichern. Aus dem Recht der Unternehmen wird eine Verpflichtung, auch zu anderen Zwecken. Damit ist meines Erachtens die Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein Generalverdacht gegen alle Bürger entsteht, die solche Kommunikationsmittel benutzen, ohne dass für die Speicherung als solcher ein konkretes Verdachtsmoment bestehen muss.
Ähnliche Bedenken hege ich auch hinsichtlich der Regeln im Bereich der Telekommunikationsüberwachung hinsichtlich der unterschiedlichen Behandlung sogenannter Berufsgeheimnisträger. So ist für mich beispielsweise nicht nachvollziehbar, warum Abgeordnete des Deutschen Bundestages einen höheren Schutz genießen sollen als Rechtsanwälte, Ärzte und - insbesondere unter der Geltung des Art. 5 GG - auch Journalisten.
5. Ich habe dem Gesetzentwurf trotz dieser Bedenken aus folgenden Gründen zugestimmt: Wie mir die Rechtspolitiker meiner Fraktion versichert haben, ist es ihnen und der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, in harten Verhandlungen gelungen, Schlimmeres zu verhindern und insbesondere hohe Hürden für die Umsetzung dieser problematischen Restriktionen einzuziehen. Ein generell geltender Richtervorbehalt zum Beispiel für den Zugriff auf bei den Telekommunikationsunternehmen anlasslos gespeicherte Verbindungsdaten, das ausdrückliche Verbot des Rückgriffs auf Informationen, die zum Kernbereich der privaten Lebensgestaltung gehören, die Beschränkung des Zugriffs und der Verwertung auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ machen den dargestellten Paradigmenwechsel weniger unerträglich.
Mit dem Gesetzentwurf wird eine EU-Richtlinie umgesetzt (EU-Richtlinie 2006/24/EG), die die Mitgliedstaaten, also auch die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Speicherungspflichten einzuführen. Diese Richtlinie ist aufgrund von Bemühungen der Bundesregierung verändert worden (so war ursprünglich für die Vorratsdatenspeicherung ein Zeitraum von 36 Monaten vorgesehen), deren Bemühungen ich ausdrücklich würdigen möchte.
Der Gesetzentwurf hat deshalb nach meiner Auffassung eine andere Qualität als die offensichtlich verfassungswidrigen Vorschläge aus dem Innen- beziehungsweise aus dem Verteidigungsministerium zur sogenannten Online-Durchsuchung, zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren über die Vorschriften des Art. 35 Abs. 2,3 GG hinaus oder gar zur Neuauflage eines Luftsicherheitsgesetzes.
Ich würde mich freuen, wenn Sie meinen Argumenten und der Neuregelung gegenüber zumindest offen sein könnten.
Mit freundlichen Grüßen
Niels Annen, MdB