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Niels Annen
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Frage von Andreas H. •

Frage an Niels Annen von Andreas H. bezüglich Soziale Sicherung

Hallo Herr Annen,

Ihr Parteigenosse und Hamburger Kollege Olaf Scholz hat heute bei Anne Will in Reaktion auf die Hessen-Wahl gesagt, dass die sozialdemokratischen Erfolge in der großen Koalition in Berlin zu wenig Beachtung finden. Dabei hat er das Rentenpaket benannt. Würden Sie das Rentenpaket als sozial bezeichnen und dass es damit dem sozialdemokratischen Grundgedanken gerecht wird? Erhöht das Rentenpaket die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland nicht vielmehr, weil eine der ärmsten Gruppen, bereits Erwerbsgeminderte, von den Verbesserungen vollkommen ausgenommen sind? Wer vor 2014 Erwerbsgemindert wurde ist von den Verbesserunen in der Berechnung der Erwerbsminderungsrente aus dem Rentenpaket 2014 und dem Rentenpaket 2018 sein ganzes Leben lang ausgenommen, im Gegensatz zu nach 2019 Erkrankte. Schafft damit nicht dieses Rentenpaket eine kleine neue Zweiklassengesellschaft unter den Erwerbsgeminderten? Kann das im Sinne der Sozialdemokratie sein? Sollte die SPD nicht dringend mal wieder für ehrliche Sozialpolitik eintreten, auch bei Randgruppen, deren ungerechte Behandlung kaum jemand bemerkt? Ist da soziale Gerechtigkeit nicht so wichtig, weil es kaum jemand merkt? Könnten Sie sich in ihrer Partei für soziale Gerechtigkeit auch für die Randgruppe der bereits Erwerbsgeminderten einsetzen?

Viele Grüße
A. H.

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Sehr geehrter Herr H.,

vielen Dank für Ihr Schreiben. Ihre Sorgen nehme ich sehr ernst. Daher möchte ich versuchen, Ihnen die Hintergründe darzulegen:

Aus der kontinuierlich schlechter werdenden Situation von Erwerbsminderungsrentnern – über 10 Prozent der Neurentner sind auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen – hatte die SPD bereits im Wahlprogramm zur vorletzten Wahl Konsequenzen gezogen und sich für deutliche Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten eingesetzt.

In der letzten Wahlperiode konnten wir eine zweimalige Erhöhung der Zurechnungszeit für neue Erwerbsminderungsrenten durchsetzen. Durch die sogenannte Zurechnungszeit werden EM-Renten so berechnet, als ob die betroffenen Menschen nach Eintritt der Erwerbsminderung wie bisher weitergearbeitet hätten. Dabei handelt es sich um eine sozialpolitisch sehr positiv wirkende Regelung. Denn die gesetzliche Rentenversicherung gleicht damit aus, dass die Betroffenen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt arbeiten und Beiträge zahlen konnten. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass wir uns für die Betroffenen weitere Verbesserungen gewünscht hatten. Dies war mit CDU/CSU leider nicht umsetzbar.

In den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag konnten wir nun weitere Verbesserungen für die Erwerbsminderungsrenten erreichen, die nun mit dem sogenannten „Rentenpakt“ umgesetzt werden: Zum einen wird die bereits in der letzten Legislatur beschlossene Erhöhung der Zurechnungszeiten vorverlegt und zum anderen werden die Zurechnungszeiten insgesamt deutlich verlängert. Die Zurechnungszeit wird für neu beginnende EM-Renten bis zur Regelaltersgrenze verlängert: zunächst im Jahr 2019 in einem Schritt direkt auf 65 Jahre und 8 Monate, anschließend bis 2031 schrittweise weiter auf das dann geltende Renteneintrittsalter. Im Jahr 2031 wird die Absicherung bei Erwerbsminderung im Vergleich zu der bis Ende Juni 2014 geltenden Rechtslage damit um mehr als 17 Prozent verbessert sein.

Es wäre sozialpolitisch wünschenswert, auch die bereits laufenden EM-Renten zu verbessern. Leider gelten Veränderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung in der Regel nur für Neurentner. Die Einbeziehung des Rentenbestands hätte die Kosten – insbesondere in der Anfangszeit – um ein Vielfaches erhöht. Dies wäre vor dem Hintergrund der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung schwierig darzustellen gewesen.

Es trifft zu, dass dies für Versicherte, die kurz vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Regelungen oder generell früher in Rente gingen, persönlich sehr ärgerlich ist. Würde man die Regelungen auch auf den Bestand übertragen, so müsste eine komplette Neuberechnung auf Grundlage des jetzt geltenden Rechts vorgenommen werden; dies wäre nicht nur mit einem enormen Verwaltungsaufwand verbunden, sondern könnte im Einzelfall – durch andere zwischenzeitlich erfolgte Rechtsänderungen - auch zu Verschlechterungen führen.

Diese Problematik, die unter dem Problem „Stichtage in der Rentenversicherung“ gefasst werden kann, war schon häufig Gegenstand gerichtlicher Überprüfungen, bis zum Bundesverfassungsgericht. Stichtage sind im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung notwendig, gerade um „willkürlichen“ Entscheidungen zu begegnen. Ohne sie wären die Möglichkeiten zu Gesetzesänderungen mit dem Ziel der Weiterentwicklung des Sozialversicherungsrechts und seiner Anpassung an geänderte Verhältnisse sehr begrenzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung bekräftigt, dass der Gesetzgeber Stichtage setzen kann, sofern diese nicht als völlig willkürlich erscheinen. Rechtfertigungen für Stichtage können in versicherungs- und rentensystematischen Gründen liegen, aber auch in finanziellen Erwägungen oder in Erfordernissen der verwaltungsmäßigen Durchführbarkeit. Dies bedeutet, der Gesetzgeber muss verfassungsmäßige Grundsätze wahren und darf nicht in bereits laufende Ansprüche verschlechternd eingreifen.

Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die die Voraussetzungen eingeführter Vertrauensschutzregelungen nicht erfüllen, hierüber enttäuscht sind. Dies ist für Vertrauensschutzregelungen jedoch nie zu vermeiden. Jede andere Abgrenzung würde von anderen Personengruppen, die dann nicht in den Vertrauensschutz einbezogen sind, wiederum als Härte empfunden.
Würde das Gesetz solche Stichtagsregelungen nicht kennen, wären auch Verschlechterungen durch neue Gesetzgebung möglich. Stichtage sind insofern auch ein Schutz für bereits laufende Renten.

Gleichwohl ist Ihre Erwartung, gleichzeitig etwas für die Menschen zu tun, die bereits eine Erwerbsminderungsrente beziehen, sehr nachvollziehbar. Künftig kommt es darauf an, Lösungen zu finden, wie wir auch Menschen im Bestand eine Verbesserung ihrer Situation ermöglichen können. Bei der jüngsten Gesetzesänderung für Erwerbsminderungsrentner/innen war das leider noch nicht möglich.

Nichtsdestotrotz haben wir als SPD-Fraktion das Thema EM-Rente in der zuständigen Arbeitsgruppe und der zuständige Berichterstatter Kapschak auf dem Schirm. Es gibt jedoch Stimmen in der Union, die an dieser Stelle keine Verbesserungen wünschen, sodass Veränderungen schwer erreichbar sind. Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass in dieser Legislaturperiode – auch wenn es kein Auftrag aus dem Koalitionsvertrag ist – Verbesserungen für den Bestand erreicht werden können.

Mit freundlichen Grüßen
Niels Annen

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