Portrait von Nebahat Güçlü
Nebahat Güçlü
SPD
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Nebahat Güçlü zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Andreas R. •

Frage an Nebahat Güçlü von Andreas R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Hallo,

Aufgeschreckt durch einen Beitrag des ZDF (vgl. das Video unter http://www.zdf.de/ZDFmediathek/inhalt/25/0,4070,2338009-5,00.html ) wurde mir bewusst, dass zumindest das Fünftel der vom VIKZ betriebenen 250 Moscheen in Deutschland von einem Verein betrieben wird, der Kinder indoktriniert und eine Parallelgesellschaft aufbauen will. Demnach sollen 60.000 (!) Schüler in Deutschland Unterricht beim Verein nehmen.

Auch eine weitere Recherche im Web hat mich nun sehr beängstigt, insbesondere weil der Verein ja bspw. in Bundesländern bereits bei der Vorbereitung eines Islamunterrichts herangezogen wurde.

Meine Frage an sie: wie geht ihre Partei vor, um die Entstehung einer fundamentalistischen Parallelgesellschaft wirksam einzudämmen bzw. rückzubauen und auch Kindern von Ausländern eine Teilnahmemöglichkeit an einer aufgeklärten, freien Gesellschaft frei von Fundamentalismus zu ermöglichen?

Inwiefern hat sich ihre Partei bereits mit dem VIKZ befasst?

A. Reichhardt

Portrait von Nebahat Güçlü
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Reichhardt.

Viele Menschen haben Angst davor, daß sich der Islam in unserem Land radikalisiert. Ich kann diese Angst angesichts der alltäglichen schrecklichen Ereignisse in der Welt gut verstehen. Trotzdem dürfen wir nicht Befürchtungen mit Phantasien verwechseln. Nicht jeder Moslem ist gleich ein potentieller Attentäter und nicht jede Muslima, die ein Kopftuch trägt, ist eine willenlose unterdrückte Frau. Die gegenwärtige Situation ist sehr komplex und geprägt von Unkenntnis und Vorurteilen. Daher verwundert es denn auch nicht, daß sich in der aktuellen Berichterstattung über Muslime, Moscheen und Islam vielfach nur Negativnachrichten und Skandalisierung derzeit gut vermarkten lassen.

Leider habe ich die von Ihnen genannte Sendung nicht gesehen. Wir Grünen in Hamburg stehen im regen Austausch mit verschieden religiösen Vereinen und Organisation in. Mit dem VIKZ habe ich allerdings in meiner Funktion als Migrationspolitische Sprecherin der GAL bisher keine nennenswerten Gespräche geführt. Den VIKZ kenne ich daher also auch mehr oder weniger aus Medien und Büchern. Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, den VIKZ besser kennenzulernen, dann würde ich Ihnen das Buch „Eine Wellenlänge zu Gott“ von Gerdien Jonker (Islamwissenschaftlerin) empfehlen, die sich in einer empirischen Studie mit dem VIKZ beschäftigt hat.

An dieser Stelle nur kurz einige Informationen über den VIKZ:
Der VIKZ ist 1973 gegründet worden und ist damit der älteste durchgehend existierende und türkisch dominierte islamische Verband. Er ist der drittgrößte türkisch-islamische Verband in Deutschland nach der DITIB und der IGMG. Der VIKZ entstammt einer mystischen Richtung des Islam und wird als der am strengsten religiös ausgerichtete Verband eingeschätzt. Der VIKZ konzentriert sich auf die Lehre des Koran und die reine Glaubenspraxis. Der Dialog mit anderen Muslimen und Glaubensrichtungen ist sehr eingeschränkt. Auch wenn es bis zum Jahr 2000 einige Bestrebungen hin zu einer Öffnung zum Dialog gab, ist nach dem Tode des charismatischen Führers Kemal Kacar eine Kehrtwende vollzogen worden. Der VIKZ hat sich vom interreligiösen und innerislamischen Dialog abgewendet. Der Verband war Mitglied im Zentralrat der Muslime und auf Landesebene in der SCHURA Hamburg organisiert. Im Jahre 2000 ist der VIKZ aber aus beiden Organisationen ausgetreten. Von Ihnen geht kein Radikalismus aus, sie sind nicht extremistisch aber doch sehr verschlossen.

Themen muslimischer Religionsausübung haben in der jüngsten Vergangenheit verstärkt Eingang in die politische und gesellschaftliche Debatte gefunden. Kopftuchgesetze, Bestattungsgesetze und islamischer Religionsunterricht sind hier als Stichworte genannt. Darüber hinaus wird immer wieder die Verfassungstreue einzelner muslimischer Organisationen oder Personen bezweifelt. Doch die Diskussion findet stets in getrennten Räumen statt. Gerade zwischen Staat und muslimischen Verbänden findet kein kontinuierlicher Dialog statt, der geeignet wäre, einen schonenden Interessenausgleich für auftretende Konflikte im Zusammenleben zu finden und z.B. gemeinsam den Terror zu bekämpfen. Statt dessen werden Vorbedingungen formuliert, die letztlich nichts anderes als Ausdruck von Mißtrauen sind.

In der Bundesrepublik leben ca. 3,5 Mio. Muslime, die deutsche Staatsangehörige sind oder legal in Deutschland leben. Wir müssen sie integrieren. Ihre Religion ist Teil ihrer Kultur und somit auch der unseren. Wir müssen wachsam sein, dürfen dabei aber nicht Vorurteilen auferliegen. Es ist oft die Unkenntnis des Islam, die die Ängste nährt. Es ist an uns, ihn besser kennenzulernen und die Hirngespinste zu zerstreuen. Daher halten wir den Dialog mit den verschieden religiösen Vereinen und Verbänden für unbedingt notwendig.

Meiner Überzeugung nach spielt die Religion im Integrationsprozess eine positive Rolle, die dadurch verstärkt werden kann, dass ein Dialog innerhalb der Glaubensgemeinschaften von Zuwanderern sowie zwischen diesen Gemeinschaften und der etablierten Gesellschaft in Gang gebracht wird. Religion kann die gesellschaftliche Integration fördern und bietet viele Gelegenheiten für positive Interaktion. Wie die Kultur im Allgemeinen, so ist auch die Religion ein Integrationsfaktor. Sie kann einen wichtigen Rahmen für die Entwicklung eines Selbstverständnisses als StaatsbürgerIn und der damit verbundenen Handlungsmöglickeiten bilden.

Daher unterstützen wir Grünen ausdrücklich den religionsübergreifenden Dialog, weil wir darin eine Möglichkeit sehen, Konflikten oder Spannungen zwischen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften vorzubeugen und insbesondere seit dem 11. September 2001 dem Fundamentalismus entgegenzuwirken. Dieser Dialog ist in Nachbarschaften, Schulen, Kindergärten, in Kirchen und Universitäten, Behörden und Volkshochschulen usw. wesentlich intensiver zu führen als bislang. Zumal sich ausländische Muslime deutlich stärker zurückziehen und abgrenzen. Unserer Ansicht nach können staatliche Stellen auf verschiedenen Ebenen den Dialog zwischen den Religionen unterstützen, indem sie Diskussionsplattformen einrichten oder zur Klärung des Rechtsstatus von Migrationskirchen- und Moscheen beitragen. Obwohl solche Initiativen in vielen Fällen sehr erfolgreich sind, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass ein derartiger Dialog- auch auf religionsübergreifender Ebene- keine „schnelle“ Lösung“ bietet und unmittelbare Konflikte dadurch nicht immer ausgeräumt werden können.

Die GAL-Fraktion hat das Ziel VertreterInnen aller am gegenwärtigen Diskussionsprozess beteiligten Gruppen und Organisationen und am Dialog Interessierte zusammen zu führen und möglichst praktikable Wege zu einer konstruktiven und verbindlichen Zusammenarbeit zu suchen. Es darf nicht sein, dass wir weiterhin über Muslime reden, aber nicht mit ihnen. Wir wollen den Dialog auf gleicher Augenhöhe.

Zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört für uns die Gleichbehandlung aller Religionen. Wir wollen den Islam einbürgern. Das bedeutet, ihn als alltäglichen Bestandteil unserer Gesellschaft anzuerkennen. Das bedeutet, Moscheenbauten und islamische Friedhöfe zuzulassen. Das bedeutet, dass wir uns in innerreligiöse Angelegenheiten nicht einmischen wollen. Seit Martin Luther kann nicht mehr vorgeschrieben werden, in welcher Sprache gebetet wird. Den Islam einzubürgern bedeutet, dass muslimische Kinder die Chance brauchen, Islamunterricht in deutscher Sprache zu erhalten. Das bedeutet aber auch, dass muslimische Schülerinnen und Schüler an allen schulischen Aktivitäten teilnehmen. Hier darf setzen wir auf den Pragmatismus vor Ort statt auf Kulturkampf. Das bedeutet aber auch, dass
Imame die Verpflichtung haben, in ihre Predigten beispielsweise auf die Gleichheit von Frau und Mann hinzuweisen.

Wir Grüne verwahren uns gegen den Generalverdacht gegenüber Muslimen in Zeiten des internationalen Terrorismus. Wir wollen gemeinsam mit den hier lebenden Muslimen gegen Fanatismus und für Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit kämpfen. Wir wollen die Musliminnen und Muslime ermutigen, sich zu organisieren. Das deutsche Staatskirchenrecht muss für alle Religionen gelten. Wir fordern die Einrichtung eines Rates der Religionen auf Bundes wie Landesebene. Der kritische und offene Dialog zwischen Christen, Juden, Muslime und Atheisten bleibt für unser Land konstruktiv.

Mit freundlichen Grüßen

Nebahat Güclü